Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
Amsterdam! Endlich war er wieder zu Hause. Nachdem Alexej in der Dunkelheit verschwunden war, liefen Nik und Ellie durch den Hafen in die Stadt hinein.
Nik rannte immer schneller. Nach der langen Überfahrt in der engen Kabine fühlte sich die Stadt so weit an wie die endlosen Wiesen und Moore vor den Toren Londons.
Die Schritte hinter ihm stockten immer wieder. Nik drehte sich jedes Mal um und wartete. Ellie blieb auf allen Brücken stehen und lehnte sich über das Geländer. Sie betrachtete die Häuserreihen, die unzähligen kleinen Boote in den Grachten und die Blumen, die in den Hinterhöfen und auf einigen schmalen bunten Streifen am Ufer unter den Bäumen blühten. Die wenigen Straßenlaternen warfen gelbes Licht auf die roten, weißen und blauen Blüten.
Nik wusste, mit welch neugierigen, staunenden Augen sie die Stadt betrachtete. Auch wenn er in seinem Leben jede Straße in der Nähe des Hafens schon Hunderte Male betreten hatte, wirkte sie nach einem Jahr in London aufregend neu und verändert.
Als er die Geduld verlor, griff er nach ihrer Hand. Er hielt sie fest und zog sie sanft mit sich, wenn sie langsamer wurde. Er wollte auf jeden Fall vor Anbruch des Tages bei seinen Eltern sein. Danach füllten sich die Straßen, und die Gefahr, von jemandem erkannt zu werden, wäre sehr viel größer.
Nik verlangsamte seine Schritte, als sie nur noch wenige Häuser von seinem Zuhause entfernt waren. Ellies Finger lagen warm und weich in seiner Hand. Er zögerte kurz, bevor er sie losließ und vor die Eingangstür trat.
Amilia öffnete auf sein Klopfen. Sie betrachtete ihn im Licht der Laterne und fiel ihm dann um den Hals. Sie drückte seinen Kopf an ihre Brust und weinte leise.
Nik wollte sie beruhigen und ihr den Rücken tätscheln, aber sie hielt ihn fest an sich gedrückt und sein leises Gemurmel versank in ihrem Kleid. Er schluckte und ließ es geschehen. Etwas verlegen wand er sich schließlich aus der Umarmung. »Ich muss Benthe sehen. Sagst du mir, wo sie ist?«
»Du kannst sie jetzt nicht besuchen, Nicolaas. Komm herein und geh morgen zu ihr!« Sie deutete in das Innere des Hauses, aber Nik rührte sich nicht.
»Sag mir bitte, wo sie ist! Ich sehe nur zum Fenster hinein und komme zurück. Versprochen!«
Er konnte seine Ungeduld vor Amilia kaum verbergen. Zuerst musste er wissen, wo Benthe war, und herausfinden, ob ihr Meister zu der Gilde gehören könnte. Er würde ohnehin kein Auge zumachen, bis er es erfahren hatte.
»Sie ist bei einem Spiegelmacher in der Lehre. Er ist erst seit einem Jahr in der Stadt und ungemein gefragt bei den feinen Leuten.«
»Wie ist sein Name?« Nik hielt den Atem an.
»Heinrich Sehfeld.«
Heinrich zog sie in die Werkstatt hinein. Auf dem Tisch mit dem Scherbenmosaik brannte eine Kerze und warf ihr Licht durch unzählige Spiegelscherben an die Decke. Auf den Spiegeln an der Wand lag ein dunkler Schleier, sie schienen zu schlafen.
Carmen kicherte nervös. Wie albern sie war! Spiegel zeigten nur die Wirklichkeit und nichts anderes. Allerdings hatte ihr kleiner Handspiegel ein Wunder vollbracht und ihr all das vor Augen geführt, was sie in der Ehe mit dem Stadtregenten verloren hatte.
Carmen hörte ihr Herz klopfen. Heinrich führte sie langsam durch die Werkstatt und die Treppe hinauf in das obere Stockwerk.
Durch eine geöffnete Tür blickte sie in Heinrichs Zimmer. Zwei Kerzen brannten in den Wandhalterungen links und rechts von seinem Bett. Carmen blieb vor der Tür stehen und sah zurück. Unten in der Werkstatt flackerte Kerzenlicht geheimnisvoll zwischen den Spiegeln und sie dachte an das Haus ihrer Kindheit und die Zeiten, als ihre Eltern sie wie eine kleine Prinzessin verwöhnt hatten.
Ihr Vater würde sich schämen, wenn er jetzt in ihr Herz sehen könnte und wüsste, was sie sich wünschte. Bei dem Gedanken ging sie unwillkürlich einige Schritte rückwärts und stand nun auf dem Treppenabsatz. Heinrich flüsterte ihren Namen, doch sie wagte nicht, ihn anzuschauen. Sie war versucht, einfach davonzulaufen.
Dann hob sie den Spiegel, den sie noch immer in der Hand hielt, und blickte hinein.
Sie sah keinen Zweifel. In ihren Augen brannte Gier nach dem Geheimnis des Spiegelmachers, der zugleich die Weisheit des Alters und die Leidenschaft eines jungen Mannes ausstrahlte.
»Was ist dein Geheimnis?«, fragte sie und ging auf ihn zu.
Doch er antwortete nicht. Ruhig stand der Spiegelmacher neben seinem Bett und betrachtete sie mit seinen blassen blauen
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