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Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Titel: Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoinette Lühmann
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Jacke hochhob, entdeckte er die Kugel. Der wunderbare Geruch seines Vaters nach Pfeifentabak und Zitrone stieg ihm in die Nase. Nik schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Dann nahm er die Kugel an sich, obwohl er befürchtete, dass sein Vater ihm das niemals verzeihen würde.
    Er wickelte das gläserne Kunstwerk in ein Hemd ein. Da er nicht sicher war, welches Gesicht sich im Schein ihrer Kerze darauf abbilden würde, wollte er das Glas vor Ellie verbergen.
    Nik warf einen letzten Blick auf seine schlafenden Eltern. Ihre Gesichter wirkten friedlich und entspannt. Die tiefen Sorgenfalten, die sich vor vielen Monaten in ihre Stirnen gegraben hatten, waren nur als blasse Schatten zu erahnen.
    Nik seufzte leise und verließ das Zimmer.

Die Luft war kalt und feucht. Die Schleusen wurden geschlossen und in der Gracht gurgelte das Wasser. Nik sah zu den Dächern hinauf. Von der Sonne war noch nichts zu erkennen, doch der schwarze Himmel hatte sich zu einem dunklen Grau aufgehellt.
    Nik hätte alles dafür gegeben, wenn er auf ein Dach klettern könnte. Er wollte beobachten, wie sich der Nebel auflöste und ein neuer Tag erwachte, wenn die Sonne den Himmel über den Dächern der Stadt erklomm und man irgendwann die Masten der Segelschiffe sehen konnte. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Nik. »Der Morgen bricht bald an.«
    Sie durften keine Zeit verlieren. Wenn sich der Hafen mit Leben füllte, würden sie den Arbeitern und Händlern auffallen, und dieses Risiko durften sie nicht eingehen. Nik und Ellie liefen durch die Gassen, ohne sich umzudrehen.
    Sie kamen zu dem alten Stadttor, und ihre Schritte hallten gespenstisch laut, als sie unter dem steinernen Bogen hindurchliefen. Auf der anderen Seite hing eine Laterne an der Mauer. Unter der Laterne lag eine riesige tote Ratte mit einem runden Loch im Schädel. Nik blieb stehen und betrachtete angewidert das fette Nagetier. Ellie stieß in der Eile gegen ihn und suchte auf dem Boden nach dem Grund für sein Interesse. Sie schrie leise auf, als sie den verletzten Kopf des übergroßen Tieres sah.
    »Wie ist das geschehen?«, fragte sie atemlos und wich einen Schritt zurück.
    Nik zuckte ratlos mit den Schultern. Doch in dem Moment stolperte Ellie. Sie war auf das Rinnsal Blut getreten, das aus dem leblosen Körper über das Pflaster gelaufen war, und hatte versucht, das Gleichgewicht zu halten. Sie fing sich noch einmal, traf Nik aber mit ihren rudernden Armen an der Schulter und schlug ihm so die Kugel aus der Hand.
    Nik fluchte und hechtete dem Glas hinterher. Er streckte sich, um das gläserne Kunstwerk zu erreichen, aber die Kugel schlug einen Meter von seinen Fingerspitzen entfernt auf die Straße und zersprang in tausend Stücke.
    Aus den Scherben züngelten im selben Augenblick kleine Flammen und leckten nach dem Pflaster und nach Niks Händen. Entsetzt zog Nik den Kopf zurück, denn die Flammen wuchsen tänzelnd in die Höhe und brannten in seinem Gesicht. Ellie zog ihn von der Straße, bis sie rückwärts gegen die alten Stadtmauern stießen.
    Nik befühlte sein Gesicht. Es brannte unter der Berührung seiner Finger, und die Augenbrauen und die Haare an seiner Stirn brachen, als er darüberstreifte. Es roch widerlich süßlich nach verbrannter Haut, doch er entdeckte zu seiner Erleichterung keine Blasen auf seinem Gesicht.
    Ellie schrie auf. Nik drehte sich um. Die Flammen leckten an den Bäumen und griffen nach der Mauer der Wohnhäuser.
    »Wir müssen die Leute warnen.« Ellies angstvolle Stimme holte Nik aus seinen Gedanken.
    Er stand auf. Ein kalter Wind fuhr ihm ins Gesicht und kühlte seine Haut. Das Feuer schwärzte die Mauersteine und ließ den Baum neben dem Stadttor in lichterlohen Flammen aufgehen.
    »Gibt es eine Feuerwache?«, brüllte Ellie in das Knistern und Tosen der Flammen hinein.
    »Am alten Stadttor ist eine Glocke«, rief Nik und rannte durch den steinernen Bogen zur anderen Seite der dicken Mauer zurück.
    Die Glocke hing in der Stube, in der sich früher die Wachleute aufgehalten hatten, doch sie war zu hoch, um sie von der Straße zu erreichen. Die Eichentür, die in das Innere des Stadttors führte, war fest verschlossen. Nik sah sich um.
    »Ellie!«, rief er, doch sie hörte ihn nicht. Sie lief zu den Wohnhäusern und trommelte an die Türen.
    Nik kletterte auf einen Baum, der ein paar Schritte von dem Tor entfernt stand. Er löste die Schnur von seinem Gürtel und entrollte das dünne Seil, mit dem er in den vergangenen Jahren Hunderte

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