Das Geheimnis des Viscounts
einzugestehen. Aber nein, sagte er sich, das war keine Niederlage. Es war lediglich ein kurzer Rückzug, um sich erneut zum Angriff zu wappnen. Völlig legitim. Eine sehr kluge Strategie, wie einem die besten Generäle bestätigen würden.
Sie war nahe daran gewesen, an diesem Abend zu viel preiszugeben. Zu viel von ihren Gefühlen für Jasper.
Melisande presste sich die Hand an den Unterleib, während Sally ihr mit der Bürste durchs Haar fuhr. Dass jemand, insbesondere aber ihr Gatte, Interesse daran hatte, ihre Seele zu ergründen, war sehr verführerisch. Seine ganze Aufmerksamkeit war heute Abend einzig auf sie gerichtet gewesen. Wenn sie nicht aufpasste, könnte sie sich daran gewöhnen. Einmal zuvor, mit Timothy, waren ihre Gefühle beinahe mit ihr durchgegangen, und fast wäre es ihr Ruin gewesen. Ihre Liebe war stark und unverbrüchlich. So zu lieben war kein Segen, es war ein Fluch. Solch unnatürlich starker Gefühle fähig zu sein, musste eine Anomalie des Geistes sein. Nicht Wochen oder Monate, nein, Jahre hatte sie gebraucht, um über den Verlust Timothys hinwegzukommen. Diesen Schmerz wollte sie nie vergessen, er sollte ihr stete Erinnerung sein, was passieren konnte, wenn sie sich von ihren maßlosen Gefühlen leiten ließe. Zurückhaltung war oberstes Gebot, wollte sie nicht den Verstand verlieren.
Nur daran zu denken, ließ sie erschauern, und schon fuhr abermals stechender Schmerz durch sie. Ein lauernder Schmerz tief in ihrem Bauch, wie ein Knoten, der sich immer fester zusammenzog. Melisande klammerte sich an den Rand ihres Toilettentisches. Seit fünfzehn Jahren ertrug sie allmonatlich diesen Schmerz, weshalb wahrlich kein Grund bestand, sich davon aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Ihr Haar ist so schön, wenn Sie es offen tragen, Mylady", sagte Sally hinter ihr. „So schönes langes Haar."
„Schön braun", meinte Melisande.
„Nun ja, das wohl", gab Sally zu. „Aber ein wirklich schönes Braun. Wie die Farbe von Eichenholz, wenn es gut gealtert ist. So ein warmes, weiches Blondbraun."
Melisande warf ihrer Kammerzofe einen zweifelnden Blick im Spiegel zu. „Kein Grund, mir zu schmeicheln."
Sally erwiderte ihren Blick entgeistert. „Aber wenn es doch stimmt, Mylady? Das ist dann doch keine Schmeichelei. Also, wenn es stimmt. Und es stimmt ja. Mir gefällt auch, wie Ihr Haar sich so weich um Ihr Gesicht wellt, wenn ich das sagen darf. Schade, dass Sie es nicht immer offen tragen können."
„Das hätte gerade noch gefehlt", sagte Melisande trocken. „Ich als alte Baumnymphe."
„Damit kenne ich mich nicht aus, Mylady, aber ..."
Melisande schloss die Augen, als ein neuerlicher Schmerz einschoss.
„Haben Sie sich wehgetan, Mylady?"
„Nein", sagte Melisande. „Alles in Ordnung."
Ihre Zofe schien wenig überzeugt. Natürlich würde sie sich denken können, was das Problem war, kümmerte sie sich doch um Melisandes Wäsche. Aber Melisande wollte niemanden, auch nicht die harmlose Sally, etwas so Vertrauliches wissen lassen.
„Soll ich Ihnen einen heißen Stein bringen, Mylady?", fragte Sally zaghaft.
Fast hätte Melisande das arme Mädchen angefahren, es doch endlich gut sein zu lassen, aber schon kam der nächste Schmerz angeschossen, und sie nickte stumm. Etwas Wärme könnte vielleicht helfen.
Nachdem die Zofe aus dem Zimmer geeilt war, schleppte Melisande sich zum Bett. Sie kroch unter die Decke und spürte, wie der Schmerz mit langen Fangarmen Hüften und Schenkel packte. Mouse kam aufs Bett gesprungen und robbte sich heran, bis sein Kopf an ihrer Schulter lag.
„Oh, Sir Mouse", seufzte sie und streichelte ihm die Nase. Verzückt leckte er ihr die Finger. „Du bist mein treuester Kavalier."
Sally kam mit einem heißen Ziegelstein zurück, der in weiches Flanell gehüllt war. „Hier, Mylady", sagte sie und schob den Stein unter die Bettdecke. „Mal sehen, ob das was bringt."
„Danke." Melisande zog sich den Stein an den Bauch und hielt ihn fest umschlungen. Schon nahte die nächste Welle heran. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht vor Schmerz zu stöhnen.
„Kann ich Ihnen sonst noch was bringen?" Sichtlich besorgt stand Sally an ihrem Bett und rang hilflos die Hände. „Vielleicht einen heißen Tee mit Honig? Oder noch eine Decke?"
„Nein." Melisande bemühte sich, freundlich zu klingen. Ihre kleine Zofe war wirklich ein Schatz. „Danke, aber das wäre alles." Sally knickste und zog die Tür leise hinter sich zu.
Melisande schloss die Augen und
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