Das Geheimnis des Viscounts
immer zu essen gegeben. Aber ich musste da weg. Ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen."
Sie schaute ihn an, um zu sehen, ob er verstand, was sie meinte.
Wieder nickte er und zog an seiner Pfeife. „Und Ihre Mutter?"
„Ist bei meiner Geburt gestorben." Auf einmal schmeckte die Suppe wieder, und Sally aß einen ganzen Löffel voll. „Geschwister habe ich keine. Zumindest keine, von denen ich wüsste."
Versonnen nickte er und schien ganz zufrieden, ihr beim Essen zuzuschauen und dabei sein Pfeifchen zu rauchen. Um sie her eilten geschäftig die Bediensteten und gingen ihrer Arbeit nach, aber wenn die beiden Herrschaften bei Tisch saßen, konnten auch Sally und Mr Pynch sich ausruhen.
Erst als sie ihre Suppe fast aufgegessen hatte, sah sie wieder auf. „Und wo kommen Sie her, Mr Pynch?"
„Oh, von weit weg. Ich bin in Cornwall geboren."
„Wirklich?" Ungläubig starrte sie ihn an. Cornwall war fast so fern und unzivilisiert wie Schottland. „Das hört man Ihnen gar nicht an."
Er tat es mit einem Achselzucken ab. „Tja. Alle Männer in meiner Familie waren Fischer. Aber mich hatte die Wanderlust gepackt, und als eines Tages Soldaten mit ihren Trommeln und schnittigen Uniformen durch unser Dorf marschierten, bin ich gleich mitgezogen." Er verzog den Mundwinkel zu einem seltsam schiefen Lächeln. „Hat nicht lang gedauert, bis mir klar wurde, dass nicht alles in Seiner Majestät Armee so schön war wie die Uniformen."
„Wie alt waren Sie da?"
„Fünfzehn."
Sally schaute in ihren Suppenrest und versuchte, sich den großen, kahlschädeligen Mr Pynch als schlaksigen Fünfzehnjährigen vorzustellen. Es wollte ihr nicht gelingen. Er war zu sehr Mann, als dass er jemals ein Kind hätte sein können. „Haben Sie noch Familie in Cornwall?"
Er nickte. „Meine Mutter und ein halbes Dutzend Geschwister. Mein Vater ist gestorben, während ich in den Kolonien war. Davon habe ich aber erst erfahren, als ich zwei Jahre später nach England zurückgekehrt bin. Mam meinte, sie hätte bei einem Schreiber einen Brief aufsetzen und an mich schicken lassen, aber der ist nie bei mir angekommen."
„Es muss sehr traurig gewesen sein, bei Ihrer Heimkehr festzustellen, dass Ihr Vater seit zwei Jahren tot war.”
„So ist nun mal der Lauf der Welt", erwiderte er achselzuckend. „Kann man nichts machen."
„Wahrscheinlich nicht." Sie zog die Stirn in Falten und musste wieder an die raubeinigen Schotten denken, mit ihren wild wuchernden Bärten.
„Kopf hoch, Mädchen." Mr Pynch hatte seinen Arm über den Tisch gestreckt und tippte ihr mit seinem langen, kräftigen Finger an die Hand. „In Schottland braucht man sich vor nichts zu fürchten. Und wenn doch, dann pass ich auf dich auf."
Als er um Mitternacht noch immer nicht zu ihr gekommen war, machte Melisande sich auf die Suche nach ihrem Mann. Vielleicht war er auch einfach nur zu Bett gegangen und wollte ihre Nachtruhe vor der langen Reise nicht stören, obwohl sie sich das kaum vorstellen konnte. Aus seinen Gemächern war nichts zu hören. Wie dieser Mann genügend Schlaf fand, wenn er sich die Nächte um die Ohren schlug und dann noch vor ihr das Haus verließ, war ihr ein Rätsel. Vielleicht brauchte er ja gar keinen Schlaf.
Jedenfalls war sie es leid, noch länger auf ihn zu warten. Sie verließ ihr Zimmer — in dem noch immer heillose Unordnung herrschte, nachdem Sally in aller Eile gepackt hatte — und machte sich auf die Suche. In der Bibliothek war er nicht, und auch in keinem der Salons. Schließlich sah sie sich gezwungen, Oaks zu fragen, der ihr mitteilte, dass ihr Gatte ausgegangen sei. Es blieb ihr nur zu hoffen, dass der Butler nicht merkte, wie sie verlegen errötete. Warum hatte Jasper ihr nichts davon gesagt? Schön dumm stand sie nun da!
Am liebsten hätte sie in ihrer Wut gegen etwas getreten, aber wohlerzogene Damen taten derlei nicht — ja, sie wussten nicht einmal, was Wut war —, und so dankte sie Oaks höflich und ging wieder nach oben. Warum tat ihr Gatte das? Weshalb bat er sie, ihn nach Schottland zu begleiten, um ihr dann gleich wieder aus dem Weg zu gehen? Wie sollte das nur werden, wenn sie tagelang zusammen in der Kutsche saßen? Oder hatte er das gar nicht vor? Wollte er die Fahrt gemeinsam mit dem Gepäck auf dem Kutschendach zubringen? Seltsam war das alles, wirklich seltsam. Erst stellte er ihr tagelang nach, hofierte sie, und dann, gerade als sie meinte, sie wären einander nähergekommen, zog er sich auf einmal wieder
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