Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Überraschung musste Arjen ihm zustimmen. Er fühlte sich außer Atem, aber nicht auf die niederdrückende Art, die ihn schon so unerträglich lang begleitete. Vorsichtig sog er Luft in die Lunge und stellte fest, dass sie nachgab, wenn auch nur widerwillig. Ganz langsam ließ das Reiben gegen den Rippenbogen nach, sein Brustkorb weitete sich und schuf einen ungeahnten Raum, um Sauerstoff und mit ihm das Leben in sich aufzunehmen. »Der Sommer, die Wärme … Vermutlich heilt mein Leiden allmählich aus«, versuchte sich Arjen die spontane Besserung zu erklären. »Und ich sah mich schon als farblosen, unentwegt röchelnden Junggesellen auf einem Buchhaltungsposten verschimmeln.«
»Tja, da bin ich ja wohl zum perfekten Zeitpunkt wieder aufgetaucht. Du und Buchhalter – der Gedanke ist schlichtweg abstrus, du bist für Größeres geschaffen, mein Freund. Das kann man dir doch an der Nase ablesen und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Falls du dich nun also stark genug fühlst, dann lass uns in mein bescheidenes Heim eintreten.« Die beiden jungen Männer starrten gemeinsam auf das Trümmerwerk, das einst die Eingangstür gewesen war. »Oder vielmehr reinklettern«, korrigierte sich Ruben.
»Du bist doch schon immer gern durchs Fenster eingestiegen, daran hat sich offenbar nichts geändert.«
Als Antwort bekam Arjen ein breites Grinsen, bei dem Rubens angeschlagener Vorderzahn zum Vorschein kam. In diesem Moment weitete sich sein Brustkorb erneut, als würde er ein zu eng gewordenes Korsett aus Angst und Trauer sprengen. Ein wenig ungelenk folgte er seinem Freund durch die Fensteröffnung und half ihm dabei, Gesteinsbrocken beiseitezuräumen, damit sie die alte Eingangstür, die an die Wand gelehnt stand, verschieben konnten. Dahinter kam ein Loch im Mauerwerk zum Vorschein, durch das man in einen Raum schlüpfen konnte, der zu Arjens Verwunderung im Dunkeln lag. Ruben rumorte herum, und plötzlich sickerte Tageslicht durch ein Fenster, dessen Laden von innen gesichert war. Verblüfft sah Arjen sich in der Kammer um, in der ein aus Holzplanken gezimmertes Bett und eine Bistrotischplatte mit Birkenstämmen anstelle der fehlenden Beine standen. Die Kammer war sauber, beinahe gemütlich, und was Arjen am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass sie ein Dach besaß, eine Mischung aus Planen und Planken.
Ruben entging seine Verwunderung nicht. »Das mit dem Dach war nicht ganz einfach, weil man es vorläufig nicht von außen erkennen soll. Sobald ich auf der Insel einigermaßen Fuß gefasst habe, will ich ein Reetdach draufsetzen, so wie es sich gehört. Und bis dahin reicht es aus, wenn es nicht reinregnet und windet.«
Während Ruben seine Renovierungspläne weiter ausführte und dabei in der Kammer auf und ab lief, verfinsterte sich Arjens Miene. »Seit wann bist du eigentlich schon wieder zurück? Seit einer Woche? Einem Monat?«
Augenblicklich blieb Ruben stehen und bemühte sich darum, dem finsteren Blick seines Freundes standzuhalten. »Nun schau mich nicht so vorwurfsvoll an. Seit ich auf Beekensiel eingetroffen bin, haben sich die Dinge nur so überschlagen: Ich habe einen Aushilfsjob am Hafen ergattert und noch einen als Maler oder vielmehr Schuttbeseitiger. Und dann das hier.« Ruben fasste mit unübersehbarem Stolz an die Kante seines Tisches. »Ich wollte, dass mein Neuanfang auf der Insel bereits feste Formen angenommen hat, bevor ich dir unter die Augen trete. Kein verlumpter Bengel, der sich sein Essen zusammenklauen oder erbetteln muss und auf dem Boden einer Baracke schläft. Jemand, den man am Nacken packt wie einen räudigen Köter und kurzerhand ins Heim verfrachtet, ohne dass er etwas dagegen tun kann, weil er vollkommen unmächtig ist.« In Rubens Augen zog der graue Nebel auf und verriet, mit welchen verletzten Gefühlen er zurückblickte auf den Sommer, der trotz des bitteren Endes für Arjen die wunderbarste Zeit seines Lebens war. So hatte sich Ruben damals gefühlt: wehrlos wie ein eingesperrter Hund, für den sich niemand interessierte. »Erst jetzt bin ich wirklich in der Lage, mein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, und genau das ist es, was ich will. Ich habe an dich gedacht, Arjen. Nicht erst seitdem ich wieder auf Beekensiel bin. Aber ich musste mich zuerst einmal beweisen, bevor ich dich wiedertreffen konnte.«
»Ich habe auch an dich gedacht, sehr oft sogar.« Allerdings behielt Arjen lieber für sich, wie überlebenswichtig diese Erinnerungen gewesen waren, wenn Tage und
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