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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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Zweifel, nicht nur wegen des abgebrochenen Schneidezahns, der sein Lächeln nur charmanter machte. Ein kleiner Pirat , dachte Greta und glaubte sich direkt ein wenig verliebt. Obwohl seine Nase und die linke Gesichtshälfte wegen der Lichtflecken kaum zu erkennen waren, ließ sich sagen, dass aus diesen Zügen einmal ein anziehendes Männergesicht werden würde. Nicht weil sie so klassisch geschnitten waren, sondern wegen ihrer Eigensinnigkeit. Gut möglich, dass es vor allem an der Ausdrucksstärke dieses ungefähr zwölfjährigen Jungen lag, dass er auch auf dem Foto noch so eine überbordende Lust auf Abenteuer ausstrahlte, während ihm gleichzeitig auch eine Verletztlichkeit anzusehen war. Nein, es überraschte Greta nicht im Geringsten, dass Arjen seinem Freund vom ersten Augenblick an verfallen war. Ihr wäre es genauso ergangen.
    Nachdem Greta die Fotos wieder sorgfältig verpackt hatte, blieb sie noch eine Weile sitzen. Diese Kirche war also der Grund dafür gewesen, dass die Rosenbooms ihren Weg nach Beekensiel gefunden hatten. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Thaisen die Pfarrstelle auf dieser unbedeutenden ostfriesischen Insel angetreten, gewiss weil er sich mit seiner Besserwisserei bei seinen Vorgesetzten unbeliebt gemacht hatte. Von diesem schlichten Altar aus hatte er seiner unwürdigen Gemeinde vor Augen geführt, dass sie kein Leben im Antlitz Gottes führte, sondern sich von Zerstreuungen wie Politik und der Jagd nach dem schnöden Mammon verführen ließ. Allem Anschein nach war Arjen nach seiner Mutter geschlagen, denn als Arzt hatte er ja auch für seine Mitmenschen gesorgt, jedoch kein Bedürfnis verspürt, seinen Schäfchen Vorhaltungen zu machen. Thaisen hatte dieses Gotteshaus geprägt, aber er war nie zu einem Teil dieser Insel geworden – im Gegensatz zu Magda, die hier ihren Platz gefunden hatte, wenn auch nur für eine viel zu kurze Zeit.
    Das schummrige Licht verleitete Greta dazu, einen Moment lang die Augen zu schließen und sich auf diese Weise besser auf die Lebenswege ihrer Familie einzulassen. Im Geiste zeichnete sie sie nach, verwandelte sie in ein Muster, lauter miteinander verwobene Bögen, die in der Dunkelheit begannen und in der sonnendurchfluteten Ferne verschwanden. Es ist die Kraft des Walfischknochens , gestand sie sich halb belustigt, halb erschrocken ein. Seine Schnitzereien haben sich mir eingeprägt.
    Woher auch immer diese Feinfühligkeit stammte, es kam ihr vor, als würde sie plötzlich gleichzeitig in zwei verschiedenen Welten wandeln: Im Heute, in dem ihre Zehen sich trotz ihrer warmen Lederstiefel in Eiszapfen verwandelten, und dem Gestern, das bevölkert war von Menschen, die sie nie kennengelernt hatte und die ihr trotzdem un vergleichlich vertraut erschienen. Als sie schließlich auf stand, den Gang hinablief und die schwere Eichentür der Kirche aufstieß, kam ihr in den Sinn, dass ihr Großvater davon erzählt hatte, wie er an einem Sommertag den Gottesdienst verlassen hatte. Während seine Worte sie umkreisten, kam es ihr vor, als folgte sie Arjen, einem in die Höhe geschossenen hageren Jungen, dem alles Weichliche abhandengekommen und der trotzdem noch weit davon entfernt war, ein Mann zu sein. Er blinzelte, als er die Kirche verließ und ihm das Sonnenlicht in die Augen stach, nachdem er während des Gottesdienstes eine gefühlte Ewigkeit auf den Boden gestarrt hatte, um besser ausblenden zu können, wie sein Vater sich vorne am Altar in Rage redete. Kaum war sein Blick wieder klar, bemerkte er die Gestalt am Kai. Sieben lange Jahre hatte er nicht gewusst, was aus seinem Freund Ruben geworden war.
    Es muss Arjen wie ein Wunder vorgekommen sein …
    Greta ignorierte die Kälte, die sie auf dem Marktplatz empfing, und presste einen Hand vor die Brust, um den aufsteigenden Druck auszugleichen. In Gedanken versunken blieb sie auf dem verwaisten Platz stehen. Wie kam es nur, dass ihr Arjens Vergangenheit so naheging und eine Sensibilität in ihr freilegte, die sie bislang nicht einmal erahnt hatte? Die Liebe, die sie für ihren Großvater empfand, reichte ihr als Erklärung kaum aus, die Verbindung, die sie zu seinen Erlebnissen verspürte, war wie ein unsichtbares Band, das ein Netz zwischen dem Damals und dem Heute spannte. Wie Arjen, so wollte auch sie Rubens Wesen erfassen und begreifen, wer er war. Als würde sie sein flüchtiges Bild in ihrem Kopf, losgelöst von Ort und Zeit, dann halten können. Mit aller Kraft malte Greta ihn sich aus, den fast

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