Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
erwachsenen Ruben mit Schuhen an den Füßen und dem Kopf voller Zukunftspläne. Doch jedes Mal, wenn sie glaubte, nur noch die Hand nach ihm ausstrecken zu müssen, verflüchtigte sich das Bild. Widerwillig gestand sie sich ein, dass sie – genau wie einst der junge Arjen – immer einen Schritt hinter Ruben herlief. Sobald sie glaubte, sein Geheimnis begriffen zu haben, offenbarte er eine neue Seite … Auch der Umschlag mit den Aufnahmen würde ihr keine Antwort darauf geben, was aus Ruben geworden war. Die Bilder zeigten nur einen Jungen, einen Ausreißer, der nicht länger sein eigener Herr war, sobald es nach den Regeln der Erwachsenenwelt ging.
Der zweite Sommer auf Beekensiel war weiterhin ein Rätsel.
24
An diesem Abend roch das Meer intensiv nach Salz und Tang, während der Himmel überm Horizont dunkelgrün eingefärbt war, als wäre er aus Glas. Die ersten frühen Sterne zeichneten sich ab, und Greta sah ihren Atem, als sie in die Melkaustraße einbog. Auch dieses Mal lagen die Fenster der Vorderseite des Klinkerhauses im Dunkeln – offenbar ging Mattes’ Großmutter ungewöhnlich früh zu Bett. Mit einem Kribbeln im Bauch klingelte Greta, und dann – als sich nichts tat – klingelte sie erneut. Im Haus blieb es still, nicht einmal ein Schatten regte sich hinter den schwarzen Fensterscheiben.
Sieht ganz danach aus, als würde Mattes noch eine Extrarunde mit Fado drehen , schlussfolgerte Greta. Er hatte ja auch nicht ahnen können, dass sie schon so früh vor seiner Tür stehen würde. Sie rieb ihre klammen Hände gegeneinander und ärgerte sich zum wiederholten Mal darüber, ihre Handschuhe nicht eingepackt zu haben. Auf Beekensiel gab es zu ihrem Elend nur ein Lädchen, das gestreifte Schals und Mützen sowie nach Erdöl riechende Seemannspullover verkaufte, aber ansonsten nichts Nützliches gegen die Kälte. Die kleine Insel hatte wirklich den Anschluss verpasst, wenn man sie mit ihren Nachbarn verglich. Da stand sie quasi im Zentrum des Ortes, aber außer dem Leileckerland und einer Kneipe mit Kegelbahn gab es nichts, worin sie sich hätte zurückziehen können. Tagsüber konnte man wenigstens noch im Teeladen mit seinen Stehtischen unterschlüpfen oder sich in den Windschatten des Fischbrötchenstands stellen, aber jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als von einem Bein aufs andere zu treten und im Freien zu warten.
Gerade als Greta beschloss, es später noch einmal zu versuchen, kam eine trotz Kälte und Wind kerzengerade gehende Gestalt in einem Cape auf sie zu. Kurz vor Greta hielt sie an und schob sich die Kapuze aus der Stirn. Das Straßenlaternenlicht beschien das Gesicht einer alten Frau, das hohlwangig und bedeckt mit hauchfeinen Falten war – was seiner Schönheit jedoch keinen Abbruch tat. Sie wirkte geradezu majestätisch. Das Paar dunkler Augen wirkte trotz des hohen Alters überaus lebendig, wenn auch abweisend.
»Was suchen Sie vor meiner Tür?«, fragte die alte Dame mit einer Stimme, die von den vielen Jahren ganz heiser geworden war.
Greta zuckte unwillkürlich zusammen. Mit einer solchen Unfreundlichkeit hatte sie nicht gerechnet, auch wenn es über Adele Ennenhof hieß, sie sei nicht gerade ein Schätzchen. »Guten Abend, ich bin Greta Rosenboom«, stellte sie sich vor, darum bemüht, sich ihre Verstörung nicht anmerken zu lassen. »Ich bin mit Mattes verabredet, aber er scheint noch mit dem Hund draußen zu sein.«
»Ach, Sie sind also Rosenbooms Enkeltochter. Keine besonders große Ähnlichkeit, möchte ich meinen. Seien Sie froh, seine Hakennase hätte Ihnen auch nicht sonderlich gut gestanden.« Da Adele nicht einmal ansatzweise lächelte, ließ sich nicht beurteilen, wie sie den Seitenhieb meinte.
»Sie erinnern sich also an Arjen? Die meisten Leute reden immer nur von seinem Vater Thaisen, der offenbar einen größeren Eindruck hinterlassen hat.«
»Womit auch schon alles über die Beekensieler gesagt ist.« Umständlich befreite Adele sich von einem Lederhandschuh und holte einen Schlüssel aus der Seitentasche ihres altmodischen Capes. »Es kommt eine Kälte über das Meer, die einem ganz tief in die Knochen kriecht. Die nächsten Tage werden ungemütlich werden. Sehr ungemütlich. Ein grüner Abendhimmel verheißt nichts Freundliches.«
Obwohl Adele wie zu sich selber sprach, nickte Greta zustimmend. Die alte Dame war zweifellos ein Besen, aber sie hatte etwas an sich, das Greta gefiel und in ihr den Verdacht weckte, dass es sich lohnte, hinter ihre
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