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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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kratzige Fassade zu blicken.
    Kaum war die Tür geöffnet, stiefelte Adele ins Treppenhaus und rief, ohne sich umzudrehen: »Wenn es Ihnen lieber ist, draußen in der Kälte herumzustehen, dann tun Sie sich bloß keinen Zwang an. Ich nötige niemandem meine Gesellschaft auf.«
    Sieht ganz so aus, als wäre unterentwickelte Gastfreundschaft vererblich , stellte Greta belustigt fest, als sie ins Treppenhaus trat, während Adele bereits in ihrer Wohnung verschwunden war. Wenigstens hatte sie die Tür offen stehen gelassen, und als Greta in ihre Wohnung eintrat, schlug ihr mollige Wärme entgegen, wie sie nur ein Feuer zu erzeugen vermochte.
    »Lassen Sie die Wohnungstür einen Spalt weit offen, dann weiß Mattes, dass er zu mir reinkommen soll«, rief Adele aus einem Zimmer, das vom Flur aus nicht einsehbar war. »Und was Ihre Stiefel anbelangt: Die ziehen Sie gefälligst aus, auch wenn ich Ihnen keine Hausschuhe anbieten kann. Unter Ihrem derben Schuhwerk hängt garantiert der halbe Strand, und ich verspüre nicht die geringste Lust, Möwenscheiße von den Dielen zu kratzen. Meine Knie sind nicht mehr die besten.«
    Greta überlegte, doch umzudrehen und draußen auf Mattes zu warten, aber da kam Adele auch schon mit einem Tablett, auf dem ein Teeservice angerichtet war, um die Ecke. »Der Wasserkessel pfeift gleich, also sehen Sie zu, dass Sie aus diesen Tretern kommen und mir in die gute Stube folgen, sonst verlaufen Sie sich bei den vielen Zimmern noch. Ich sage Mattes ja unentwegt, dass diese Wohnung zu groß für mich ist, aber davon will er nichts hören.«
    »Er möchte, dass Sie das Meer sehen«, erinnerte sich Greta, während sie durch den Flur gingen, dessen Wände überraschend kahl waren. Bei einer Frau von Adeles Alter hätte sie mit unzähligen Erinnerungsfotos oder zumindest Landschaftsaquarellen gerechnet. »Das sei von großer Bedeutung für Sie«, fuhr sie fort. »Weil Sie das Meer so lieben.«
    Abrupt blieb Adele stehen. »Ich würde nicht behaupten, dass ich das Meer liebe, aber es stimmt, dass es mir unmöglich ist, auf seinen Anblick zu verzichten oder sein ewiges Grollen und Toben nicht zu hören. Deshalb bin ich eben auch noch einmal draußen gewesen … Manchmal glaube ich, es ruft mich. Aber mit Liebe hat das nichts zu tun, eher mit Verzweiflung und Einsamkeit.« Sie wartete nicht ab, was für einen Eindruck ihre Worte bei Greta hervorriefen, sondern marschierte schnurstracks weiter.
    Die »gute Stube«, wie Adele sie nannte, erwies sich als halber Ballsaal mit hohen Bogenfenstern, unter denen es eine eingebaute Sitznische gab. Es war nicht schwer zu erraten, wo die alte Dame am liebsten saß, denn es war der einzige Platz in diesem überdimensionalen Raum, der Heimeligkeit ausstrahlte. Während die Antiquitäten, zu denen der Sekretär und die Anrichte gewiss zählten, wie auf einer Ausstellungsfläche herumstanden, gab es in der Nische Kissen, Bücherstapel und sogar eine geöffnete Pralinenschachtel auf einem Beistelltisch.
    »Nehmen Sie die Schachtel beiseite, damit ich das Tablett abstellen kann«, wies Adele an. »Und probieren Sie ruhig eine, Sie sehen nämlich aus, als würde Ihnen eine Portion Zucker guttun. Mattes meinte, Sie wären auf Beekensiel im Urlaub, aber dafür machen Sie, ehrlich gesagt, einen ziemlich abgekämpften Eindruck. Besucht mein Enkel Sie auch nachts, dass Sie solche Schatten unter den Augen haben?«
    Bevor Greta darauf eine passende Antwort geben konnte, pfiff der Wasserkessel und Adele eilte davon. Soweit ihre Erziehung es zuließ, trat Greta an die Sitznische heran und begutachtete das in Silber gerahmte Portrait einer jungen Frau mit einem riesigen Sommerhut, das auf dem Beistelltisch stand. Sie musste den Hut mit der Hand festhalten, damit der Wind ihn nicht fortriss. Aufgekratzt lachte sie in die Kamera, ein fröhliches Geschöpf, vielleicht einen Tick zu gut gelaunt. Die eigensinnig geformte Nase verriet, dass es sich um Rose Ennenhof handeln musste. Es war die einzige Ähnlichkeit zu Mattes, die Greta wiederentdecken konnte. Ansonsten war sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.
    Behutsam stellte Greta den Bilderrahmen zurück auf den Bücherstapel und betrachtete die Romanrücken. Zu ihrer Verwunderung war Adele offenbar eine vielseitige Leserin, die sogar vor Thrillern und Agentenstorys nicht zurückschreckte. Dabei hatte Greta ausschließlich gutbürgerliche Literatur erwartet. Die asketisch eingerichtete Wohnung und die elegant in Schwarz

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