Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
gekleidete Adele passten schlecht zu Geheimmissionen und Serienkillern. Da passte der Duft von frisch aufgebrühtem Assamtee schon besser, der die Wiederkehr der alten Dame ankündigte.
Nachdem Adele eine Stehlampe angeschaltet und die Kerzen in einem Bodenständer entzündet hatte, kam Greta endlich dazu, sich Mattes’ Großmutter genauer anzusehen. Ihr erster Eindruck wurde mehr als bestätigt, Adele war immer noch eine durch und durch schöne Frau mit hohen Wangenknochen und einem anmutig geschwungenen Mund, auch wenn ihre Lippen früher vermutlich voller gewesen waren – wie bei ihrer Tochter auf dem Bild. Ihr hochgestecktes Haar war schlohweiß, wodurch es nur schwer vorstellbar war, dass Mattes sein dunkles Braun von ihr geerbt hatte. Außerdem war Adele erschreckend zart, der Hals saß zerbrechlich auf den Schultern, und die Unterarme, die aus den Blusenärmeln hervorschauten und aus denen jede einzelne Vene hervorstach, waren nicht stärker als die eines Kindes. Während die meisten Menschen im Alter dazu neigten, in die Breite zu gehen, war aus Adele Ennenhof ein Vögelchen geworden, darüber täuschte auch ihre rauchige Stimme nicht hinweg.
Offenbar entging der alten Dame die Begutachtung nicht, der sie Greta unterzog, denn sie kräuselte missbilligend die Nase. »Nun setzen Sie sich endlich hin und trinken Sie Ihren Tee, wie es sich gehört. Haben Sie eine Praline gegessen, wie ich Sie gebeten habe? Nein? Nur zu, keine falsche Bescheidenheit. Ich muss die Dinger loswerden, bevor Mattes die Schachtel kontrolliert. Er hat sie mir nämlich geschenkt, Sie ahnen vermutlich warum. Der liebe Junge ist in Sorge, dass seine klapprige Großmutter eines Tages vom Wind davongeweht wird, wo der Tod sie schon zu holen vergessen hat. Aber wenn man das Leben leid hat, helfen nun einmal auch keine Pralinen. So viel zu mir, jetzt erzählen Sie mir aber rasch ein wenig über sich, sonst steht Ihre Verabredung gleich in der Tür, und dann bin ich so ratlos wie zuvor, was denn nun zwischen meinem Enkelsohn und Ihnen vorgeht. Dem Mattes muss man ja jedes Wort aus der Nase ziehen. Seine Mutter, die konnte nicht eine Sekunde lang den Mund halten, war immerzu am Plappern.« Ein jäher Schmerz zuckte über Adeles Gesicht. »Seit meine Rose nicht mehr da ist, ist es sehr still geworden. Vermutlich ist Mattes deshalb so schweigsam, weil er von einer alten Frau aufgezogen worden ist, die immerzu in der Vergangenheit lebt. Es ist sehr ungerecht, in einem Haus voller Geister aufzuwachsen, wenn man in seinem Wesenskern nach Leben lechzt und etwas bewegen will.«
»Ich habe mich heute mit Mathilde Kähler darüber unterhalten. Sie meinte, dass Mattes nicht glücklich damit sei, den Fischereibetrieb weiterzuführen, aber sich weigere, auch nur darüber zu reden.«
Adeles Blick verfinsterte sich, während sie mit ihren knochigen Fingern ein silbernes Zigarettenetui unter einem Sitzkissen hervorholte, eine Zigarette herausholte und zu paffen begann. »Klug von Ihnen, ein Schwätzchen mit Mathilde zu halten«, sagte sie. »Es tut mir bis heute leid, dass aus dieser Liebe nichts geworden ist, aber wenn Sie mich fragen, war es für Mattes zu früh. Seine rebellische, eigensinnige Mutter war gerade in der Ferne verstorben, worüber man uns erst nach ihrer Beerdigung infomierte, und er musste den runtergewirtschafteten Betrieb von seinem Onkel übernehmen. Um die Kraft dafür aufzubringen, hat Mattes sich mit aller Kraft an der Vorstellung festgehalten, ein Ennenhof zu sein. Er musste einfach wissen, wo sein Platz im Leben ist. So sind manche Männer eben … Wenn sie etwas wollen, dann wollen sie es mit aller Macht, selbst wenn sie daran zerbrechen.« Gedankenverloren öffnete Adele das Fenster einen Spalt breit und warf die aufgerauchte Zigarette hinaus. »Mattes regt sich immer über meine Qualmerei auf. Ich weiß gar nicht, wann sich das Verhältnis zwischen uns verkehrt und er die Gluckenrolle übernommen hat. Schrecklich. Aber sagen Sie mir, Greta: Glauben Sie, dass Ihnen etwas gelingen wird, das Mathilde versagt blieb? Werden Sie es schaffen, dass Mattes seine Beziehung mit diesem elenden Betrieb aufgibt, um eine mit Ihnen führen zu können?« So zynisch die Frage klang, bemerkte Greta doch, wie viel Hoffnung darin mitschwang. Adele wünschte sich, dass ihr Enkel aus seinem selbsterwählten Gefängnis ausbrach.
Erschlagen von dieser Unverblümtheit, nahm Greta erst einmal einen Schluck von ihrem Tee. »Es ist mir ein Rätsel, wie
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