Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Schärfe, bei der Greta instinktiv zurückzuckte.
»Ja, ich wollte sie deiner Großmutter gerade zeigen.«
Mattes betrachtete die Aufnahmen, zuckte merklich zusammen, dann warf er Greta einen brennenden Blick zu. »Würdest du bitte im Treppenhaus auf mich warten?«
Das war keine Frage, sondern eine unmissverständliche Aufforderung, der Greta jedoch nur ungern nachkam. »Ich würde lieber bleiben, bis Adele sich beruhigt hat.«
»Das wird sie bestimmt, sobald du ihre Wohnung verlassen hast. Also würdest du jetzt bitte gehen?«
Ungläubig stand Greta auf, zu verwirrt, um die Abzüge zusammenzusuchen. Sie gehörten ohnehin Mattes. Mit hölzernen Schritten ging sie zur Wohnungstür hinaus, durchs Treppenhaus, wo sie nur kurz stehen blieb, um ihre Stiefel wieder anzuziehen und den wartenden Fado zu streicheln, und dann hinaus in die Dunkelheit. Was auch immer Mattes dazu veranlasst hatte, so mit ihr zu sprechen – sie würde nicht, wie geheißen, im Treppenhaus warten, bis er es ihr erklärte.
Greta hatte bereits den Marktplatz erreicht, als Fado zu ihr aufschloss, und schon im nächsten Moment umfasste Mattes ihren Oberarm und brachte sie zum Stehen.
»Würdest du mich gefälligst loslassen?«, fuhr sie ihn an. Die Enttäuschung über sein Verhalten ließ ihre Stimme bitter klingen.
»Selbstverständlich, solange du stehen bleibst.«
»Du irrst dich, wenn du glaubst, ich lasse mich heute Abend noch ein weiteres Mal von dir demütigen, nur weil es dir nicht schmeckt, dass ich mich mit deiner Exfreundin unterhalte. Das ist doch der Grund für deine schlechte Laune, oder?«
Mattes schnaubte durch die Nase. »Das hat mir nicht gefallen, richtig. Aber was ich wirklich nicht verstehen kann, ist, dass du dich bei meiner Großmutter einlädst, um sie auszuhorchen. In der Vergangenheit deines Großvaters kannst du meinetwegen so viel herumschnüffeln, wie es dir Freude bereitet, aber aus unseren Familienbelangen hältst du deine Nase gefälligst raus.«
»Wie kommst du darauf, dass ich mich in euere Familienangelegenheiten eingemischt habe? Ich wollte Adele mit Arjens Fotos nur aufheitern, weil sie so traurig war. Das hatte nicht das Geringste mit Aushorchen zu tun!«
»Es war ganz bestimmt nicht Arjens Foto, das ihr die Tränen in die Augen getrieben hat.« Mattes’ Augen funkelten aufgebracht. »Du wolltest wissen, was es mit den Aufnahmen auf sich hat, auf denen mein Urgroßvater zu sehen ist, also lüg mich bitte nicht an. Offenbar hast du richtig Gefallen daran gefunden, die Geheimnisse anderer Menschen aufzudecken. Das scheint dich ja so sehr zu faszinieren, dass du nicht einmal auf alte Menschen Rücksicht nimmst, die gegen deine Neugierde nicht ankommen. Ich gebe dir einen guten Rat, Greta: Such dir lieber ein eigenes Leben, als in dem der anderen herumzustochern – weder in meinem, noch in dem meiner Familie. Hast du mich verstanden?«
Greta blinzelte nicht einmal, als sie Mattes’ wütenden Blick erwiderte. Dann drehte sie sich um und ging. Als sie die Tür des Sturmwind hinter sich zuzog, stand er immer noch genauso da, wie sie ihn verlassen hatte.
25
SOMMER 1946
Es war Arjen durchaus unangenehm, am Hafen herum zulungern und auf Ruben zu warten, der auf einem Kutter aushalf. Es musste den Eindruck machen, als habe er nichts Besseres zu tun. Was keineswegs der Wahrheit entsprach, denn seine Flüchtlingsbetreuung nahm ihn mit jedem Tag mehr in Anspruch, mit dem die Beekensieler sich gegen die Neulinge auf der Insel wendeten – vor allem wenn es um alleinstehende Frauen mit Kindern oder alte Leute ging, die nur begrenzt arbeiten konnten. Der Kneipenwirt Merten Volkers, dessen Lokal den Bomben zum Opfer gefallen war, hatte in seinem Privathaus einen provisorischen Biersalon eröffnet, in dem es selbstgebrannten Korn und Pils vom Fass gab. Der Treffpunkt wurde von den Engländern erstaunlicherweise geduldet, vermutlich gegen das eine oder andere Fass unter der Hand. Im Gegensatz zu den Nachbarsinseln, die inzwischen sogar als Kurorte für britische und polnische Militärangehörige und ihre Familien genutzt wurden, schwand das Interesse der Besatzer an Beekensiel rasch. Die wegen der zerstörten Verbindungsstrecke beschwerliche Anreise nahm niemand freiwillig auf sich, und die größtenteils zerstörte Hafenanlage bot nicht einmal ausreichend Platz für die Kutter. So kam es, dass Merten Volkers’ illegaler Biersalon blühte. Zwar war Arjen dort nicht zu Gast gewesen, aber er hatte trotzdem
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