Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
mitbekommen, um welches Thema sich die abendlichen Gespräche der Alteingesessenen drehten. Denn mittlerweile ignorierten ihn die Leute nicht mehr wie in seinen Kindheitstagen, sondern sie vertrauten sich ihm überraschend oft an. So war er als einer der ersten Außenstehenden darüber im Bilde, dass die Beekensieler sich nichts mehr wünschten, als das Rad der Zeit zurückzudrehen und, anstatt sich ihrer Vergangenheit zu stellen, an jene Tage anzuschließen, als angeblich noch alles gut gewesen war: als man unter sich blieb und sich ganz allein dem Fischfang widmete, unbehelligt von der Politik.
Das Problem war nur, dass bereits vorm Krieg einiges in Schieflage geraten war, wie Arjen fand. Anders ließ sich ein Fall wie der von Peer Hinrichs nicht erklären. Nicht alle Insulaner mochten mit den Nationalsozialisten überein gestimmt haben, aber niemand hatte sich dagegen ausgesprochen, als der Einsiedler von der Gestapo geholt worden war. Rasmus Ennenhof und Konsorten hatten sich an diesem Fall vielleicht nicht persönlich die Finger schmutzig gemacht, trotzdem waren im Grunde sie es, die solche Taten überhaupt ermöglicht hatten. Sie waren diejenigen, die vorgaben, was gut und richtig für Beekensiel war. Wobei »gut und richtig« in der Regel dasjenige war, wodurch die Geschäfte nicht gestört wurden – und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Auch wenn der Name Ennenhof bei den Gesprächen bei Merten Volkers’ Saufabenden nicht fiel, so war doch klar, welche Saat dort aufging. Jemand, der sich schon bald wieder zum wichtigsten Arbeitgeber auf der Insel aufschwingen würde und in der Zwischenzeit den Schwarzmarkt kontrollierte, hatte angedeutet, dass man sich die vielen hungrigen Mäuler, die mit Kriegsende auf Beekensiel eingefallen waren, nicht mehr lange würde leisten können. Und dass diejenigen unter den Flüchtlingen und – noch schlimmer – ehemaligen Zwangsarbeitern, die zuzupacken imstande waren, schon bald bei den Entscheidungen der Insel würden mitmischen wollen. Schließlich standen im September Wahlen an. Und woher sollten diese Menschen bitte schön wissen, was zum Wohle der Insel war? Vermutlich kannten sie eh nur ihren eigenen Vorteil, mittellos und ehrgeizig wie sie waren.
Was sollte Arjen dazu sagen?
Oder was viel wichtiger war: Konnte er etwas gegen diese Entwicklung unternehmen?
Im Geiste sah er schon, wie die braven Bürger von Beekensiel eine Vertreibung der angeblichen Gefahr einleiteten, sobald die Briten sich zurückgezogen hatten. Dann würde nicht nur sein Freund Ruben seinen gerade erst gefundenen Hafen verlieren, sondern auch viele andere, die er beim Bibelkreis kennengelernt hatte. In solchen Momenten kehrte die bleierne Erschöpfung, die ihn erst vor kurzem verlassen hatte, schlagartig zurück. Nur dass er kaum Gelegenheit fand, sich ihr zu überlassen, dafür stand einfach zu viel an. Wenn er nicht der Flüchtlingshilfe nachging oder seinen mittlerweile über siebzig Jahre alten Vater unterstützte, der die Aufgaben als Pastor zwar mit eisernem Willen, jedoch mit merklich nachlassender Kraft erledigte, ging er Ruben beim Ausbau seiner Hütte zur Hand. Das war auch nötig, denn Ruben quoll zwar vor Energie über, die er jedoch in alle erdenklichen Jobs stecken musste, um sich mit Baumaterial und Nahrung bezahlen zu lassen. Wenn er dann endlich mit Holzplanken, Nägeln und Planen beladen zur Hütte zurückkehrte, war er oftmals so erschöpft, dass es gerade für ein Gespräch beim Lagerfeuer reichte. Für Arjen waren diese abendlichen Stunden der Höhepunkt des Tages, sogar wenn Ruben einnickte, bevor die Kartoffeln im Feuer gar geworden waren. Sein Lachen, seine Abenteuergeschichten, die er nach wie vor gern erzählte, und die schlichte Nähe seines vor Lebensfreude vibrierenden Geistes reichten Arjen aus, um sich inspiriert und glücklich zu fühlen. An Rubens Seite gehörte ihm die Welt – daran hatte sich nichts geändert.
An den Tagen, an denen Arjen allein den Boden der Hütte auswechselte, weil die alte Schicht Muschelkalk Feuchtigkeit gezogen hatte, spielte er in Gedanken die Möglichkeit durch, seinen Lebensunterhalt mit ähnlichen Tätigkeiten wie Ruben zu verdienen. Die körperliche Arbeit gefiel ihm, vor allem weil sie zu einem sichtbaren Ergebnis führte. In seinem Kopf hatte sich die Vorstellung eingenistet, gemeinsam mit seinem Freund zu arbeiten. Nicht um damit Geld zu verdienen. Um Geld hatte Arjen sich nur Gedanken machen müssen, wenn er
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