Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
mitbekam, wie es den Flüchtlingen an allen Ecken und Kanten fehlte. Obwohl sich sein Blick auf die Welt vor allem im letzten Jahr erheblich geweitet hatte, war er eben doch noch Pastor Thaisens wohlbehütet aufgewachsener Sohn, der schon bald ein Studium beginnen würde, nach dem ihm alle Tü ren offen stehen würden. Daran änderten auch der vor Leere schmerzende Bauch und die durchfrorenen Nächte des letzten Winters nichts: Im Vergleich zu denen, die im Krieg Hab und Gut verloren hatten, hatte er es immer gut gehabt. Vielleicht war die Idee eines Arbeiterdaseins auch deshalb so verführerisch, weil es eine Art Abbitte darstellte, eine Demutsgeste vor dem Schicksal, das bislang so wohlwollend mit ihm umgesprungen war.
»Unsinn«, hatte Ruben ihn unterbrochen, als Arjen sich bei einem ihrer Lagerfeuerabende ausgemalt hatte, wie sie als Gespann zerbombte Häuser auf Vordermann brachten. »Dein Verstand funktioniert viel zu hervorragend, um deine Hände in Dreck zu stecken. Im Gegensatz zu mir kannst du eine Universität besuchen und Dinge erfahren, von denen ich nicht einmal einen blassen Schimmer habe.«
»Dafür weißt du eine Menge Sachen, von denen selbst die Magister noch nicht gehört haben, und damit meine ich nicht bloß den Walfischknochen, sondern auch deine Überlebenskünste. Dir musste niemand etwas beibringen, du schaffst alles von ganz allein.«
Bei Arjens letzten Worten hatte sich Rubens Ausdruck verfinstert. »Glaub mir, auch ich hatte einen Lehrer. Ohne meinen Vater und sein Geschick, sich durchzuschlagen, wäre ich niemals bis nach Beekensiel gekommen. Es waren seine Tricks, die mich damals hierhergebracht haben, sonst wäre ich schon viel früher in einem Erziehungsheim gelandet oder in irgendeinem Graben verendet, weil ich von selbst zu dumm war, ein gewöhnliches Vorhängeschloss zu knacken und mir etwas Essbares zu besorgen.«
»Hast du denn eine Ahnung, was aus deinem Vater geworden ist?«
Es hatte eine Weile gedauert, bis Ruben darauf eine Antwort gegeben hatte. Arjen war schon fast davon ausgegangen, dass sein Freund sich im Anblick der Flammen verloren hatte, heimgesucht von Erinnerungen, die er sogar mit seinem besten Freund nur unter dem Mantel einer Geschichte zu teilen imstande gewesen war. Meistens tat Ruben aber nicht einmal mehr das, sondern richtete den Blick stur nach vorne und weigerte sich zu erzählen, wie es ihm seit ihrer Trennung ergangen war. Nur das Zusammensein mit seinem Vater fand immer wieder einmal Eingang in seine Geschichten.
»Mein Vater … Die Zeit hat ihn aufgerieben, und sein Schicksal hat – wie so viele andere auch in den letzten Jahren – ein abruptes Ende gefunden«, hatte er schließlich hervorgestoßen. Dann hatte Ruben seine Wange an den aufgestellten Knien gerieben, und als er das Kinn wieder angehoben hatte, hatte ein milder Zug um seine Mundwinkel gelegen. »Aber du lenkst bloß von der Frage über deine Zukunft ab. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Falls du an der Schnapsidee festhalten solltest, ein Tagelöhner wie ich zu werden, dann werde ich dich nicht bloß schnurstracks bei deinem Herrn Vater anschwärzen, sondern dir die Freundschaft kündigen. Du bist derjenige von uns beiden, der im Leben weit kommen kann – und genau das wirst du tun.«
Arjen hatte sich nicht anmerken lassen wollen, dass diese Trennlinie ihn schmerzte, aber es war ihm nicht gelungen. »Und was ist mit dir?«
»Ich? Ich werde mir den Weg nach oben erkämpfen. Was sonst?«
Auch an diesem Abend hatte Arjen keine Antwort darauf gefunden, was aus ihm werden sollte. Er verspürte aber zunehmend das Bedürfnis, von Nutzen zu sein und sein Leben nicht länger verstreichen zu lassen. Zuerst seine Kindheit mit den nicht enden wollenden Stunden am Ulricianum in Aurich mit seinen Latein- und Altgriechisch-Prüfungen und dem Warten auf Dörchen an den freien Tagen, die ihm zumindest Gesellschaft leistete, während sie seine Wäsche plättete, kochte oder auf der Bank im Garten eine Pause machte. Dann seine Zeit als Flakhelfer, die ihm rückblickend wie ein böser Traum erschien, gefolgt von dem noch böseren Traum der nicht enden wollenden Lungenentzündung und ihrer Folgen. War es da ein Wunder, dass er sein Leben endlich selbst in die Hand nehmen wollte, so, wie Ruben es ihm vorlebte? Selbstbestimmt und voller Freude auf das, was noch kommen sollte? Aber Ruben hatte recht, Thaisen hätte es auf keinen Fall erlaubt, dass sein Sohn sich als Handlanger verdingte. Sein
Weitere Kostenlose Bücher