Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Lebewesen, das es auf Gottes schöner Erde gibt. Von einem Walfisch.‹
›Du lügst.‹
›Redet man so mit seinem Herrn Papa?‹ Auch dieses Mal missglückte sein Versuch, streng zu klingen. Gleichgültig in welcher aussichtslosen Situation wir auch steckten, er war trotzdem ein großartiger Vater.«
Ruben hielt inne und sah Arjen prüfend an, als sei es ihm wichtig, dass sein Freund diesen Widerspruch verstand. Konnte ein Vater, der mit seinem kranken Kind in einem feuchten Kellerloch hauste und sie mit Gelegenheitsdiebstählen mehr schlecht als recht durchbrachte, ein guter Vater sein? Arjen nickte und zeigte damit, dass er verstand, allerdings mehr mit dem Herzen als mit dem Intellekt.
»Mein Vater legte mir den Walfischknochen auf den Handteller, den er an beiden Seiten überragte, und schloss meine Finger über ihm. Ich weiß noch, dass ich es sofort mochte, wie der Knochen sich anfühlte, wie seine Schnitzungen sich in meine Haut drückten, als wolle er mit mir verschmelzen.
›Diesem Walfischknochen wohnt eine uralte Magie inne, die das Schicksal seines Trägers beeinflusst, indem er ihm seine innigsten Wünsche erfüllt‹, behauptete mein Vater.
›Ich bin zu alt für Märchen.‹
›Mh‹, machte er, dann legte er seine Stirn in Falten, und ich wusste, dass er sich eine bessere Geschichte ausdachte, um mich um den Finger zu wickeln. Und dann erzählte er mir von den Eskimos in Grönland, für die dieser Walfischknochen ein Heiligtum darstelle. Ich konnte geradezu hören, wie es in seinem Gehirn arbeitete, damit eine Geschichte entstand, die mich überzeugen würde. Es war ihm wichtig, dass ich den Glauben nicht verlor. Warum hätten wir sonst am nächsten Morgen aufstehen sollen, obwohl doch alles immer nur noch schlimmer wurde? Ich wusste, dass er mir eine Lügengeschichte auftischte, aber ich glaubte sie … Und ich glaube sie noch immer.«
»Ich auch«, gestand Arjen.
Ruben ließ sein Gesicht hinter den blonden Strähnen verschwinden, und als es wieder auftauchte, sah es verblüffend jung aus. »Mein Vater war ein guter Vater, ich habe ihn sehr geliebt. Und die ganzen Märchen … Warum hätten sie nicht eines Tages wahr werden sollen? Ich für meinen Teil versuche zumindest mit aller Kraft, dafür zu sorgen. Der Walfischknochen ist eine Art Kompassnadel, aber der Mensch selbst muss sich mit ihm in der Hand in einen Kompass verwandeln. Genau das ist geschehen, als ich damals nach Beekensiel gekommen bin: Diese Insel ist meine wahre Heimat.« So plötzlich wie sein Ausdruck weich geworden war, so umgehend verhärtete er sich auch wieder. »Darum brauche ich die Aufnahmen von Denneburg, daran führt nun einmal kein Weg vorbei.«
»Unsinn.« Es fiel Arjen nach diesem Geständnis schwer, die nötige Härte aufzubringen. Viel lieber wäre er still mit seinem Freund beisammengesessen und hätte das Erzählte auf sich wirken lassen. Aber Rubens Blick war nach vorne gerichtet, drängend und ungeduldig. »Bitte, tu mir den Gefallen und vergiss Ole, der hat seine Giftpfeile doch schon verschossen, und außerdem hat er im Augenblick eh Wichtigeres zu tun: seine Verlobte zu seiner Ehefrau zu machen, das Geschäft wieder auf die Beine zu bekommen und sich als passabler Erbe des alten Rasmus zu behaupten. Warum willst du also unbedingt auf Angriff gehen?«
Anstelle mit einer seiner schlagfertigen Entgegnungen die Situation zu retten, starrte Ruben ihn nur an. »Ich brauche die Abzüge der Denneburg-Fotos und die Negative. Würdest du mir die bitte geben?«
Arjen schluckte seine Frustration hinunter. »Nimm sie, wenn du nicht anders kannst, aber wundere dich nicht darüber, falls du ihretwegen untergehst.«
Die Nacht war angebrochen, und trotzdem herrschte keine Dunkelheit auf Beekensiel. Der Himmel war klar und von einem ins grünlich gehenden Blau, als spiegle er das Meer, das sanft gegen die zerstörte Hafeneinfassung leckte. Entgegen seinem sonstigen Hang zum Sommer wünschte Arjen sich inständig, es würde ein Sturm aufkommen, der Wolken herbeitrieb und dem Sternglanz auf den Wellen ein Ende setzte. Er wollte nicht gesehen werden, nicht während der Sperrstunde, obwohl sie auf Beekensiel nachlässig überwacht wurde. Vor allem aber wollte er nicht von Ruben gesehen werden, dem er heimlich gefolgt war. Dabei hatte es ihn wenig überrascht, wie geschickt sein Freund sich durch den nächtlichen Ort bewegte und – im Gegensatz zu ihm – in dem Wechsel zwischen Schatten und dunklen Ecken mehr ein
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