Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
einzigen Menschen, der ihm Nähe und Zuneigung gab. Deshalb war die halbe Stunde mit Malzkaffee samt Pfannkuchen mit Schmand und Sanddorngelee so wichtig, denn danach musste Dörchen sich beeilen, den Haushalt auf Trab zu bringen. Zur Mittagszeit musste sie bereits aufbrechen, da ihr Mann nach einem Schlaganfall nicht lange allein gelassen werden durfte. Mit ihr verließ das Haus auch die Wärme und der herrliche Duft nach Frau, der Arjen in der letzten Zeit seltsam in der Nase kitzelte.
Deshalb zog es Arjen trotz seines Wunsches, ins Freie zu stürmen, zum Küchentisch. Nicht mehr lange, dann würde Dörchen daran sitzen, ihre milchweißen Unterarme aufgestützt, während sie einen Pfannkuchen zusammenrollte … Aber er durfte der Verlockung nicht nachgeben! Nach dem nächtlichen Ausharren während des Unwetters ertrug er die Enge der Kate nicht, außerdem spürte er ein merkwürdiges Kribbeln in seiner Brust. Abenteuerlust , gestand er sich widerwillig ein. Daran war nur dieses Buch schuld, das er in der Leihbibliothek gefunden hatte: »Tom Sawyer und Huckleberry Finn« von dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain. Sein Vater hatte die Nase gerümpft, als er den Roman im spärlichen Licht der Öllampe gelesen hatte, um sich von seiner Furcht vor Blitz und Donner abzulenken. »Diese Geschichtchen aus der Neuen Welt sind doch keine Literatur«, hatte Thaisen angemerkt, um auch schon im nächsten Moment das Interesse zu verlieren. Die Korrektur seiner Sonntagspredigt war schlicht zu spannend gewesen. Da Arjen nur allzu gut wusste, was sein Vater unter Literatur verstand, war er nicht sonderlich beleidigt gewesen – außerdem nahmen ihn das Unwetter und die »Geschichtchen« ganz gefangen.
Doch Arjen hatte seinen Entschluss gefasst: Er würde den Tag am Meer verbringen. Wie ein echter Wanders mann packte er eine mit Wasser gefüllte Feldflasche, ein Stück Mettwurst und ein dick mit Butter bestrichenes Brot sowie seine Lektüre in den Rucksack. Nach einiger Überlegung schnallte er die Kamelhaardecke vom Sofa unter, denn der Boden würde noch kühl sein, und er wollte sich nur ungern die Hosen dreckig machen. Auf dem Tisch hinterlegte er eine Nachricht für Dörchen:
»Bin auf zu einer Strandwanderung. Erwarten Sie mich zu Mittag zurück! Ihr A.«
Dann griff er nach dem Strohhut seines Vaters, den er keck in den Nacken schob. Dies war sein Tag, er konnte die Gewissheit fast körperlich spüren.
Den befestigten Weg, der in den Ort von Beekensiel führte, ließ Arjen links liegen und ging stattdessen querfeldein über die Wiesen, bis er die Dünen erreichte. Als Ziel hatte er eine verlassene Fischerkate auserkoren, von der nur noch die steinernen Wände und das verrottete Dachgebälk standen. Es gab eigentlich keinen besonderen Grund, warum er gerade dorthin wollte, außer dem, dass die Insel kaum nennenswerte Landmarken besaß. Es gab nicht einmal einen Leuchtturm wie auf den Nachbarinseln, stattdessen hatten sich die Seeleute früher mit dem Kirchturm zur Orientierung begnügen müssen. Zu Beginn seines Marschs ging Arjen noch flott. Leichtfüßig stieg er über den unebenen Grund und ließ sich nicht vom kniehohen Gras behindern. Doch schon bald wurde der Rucksack immer schwerer, und erste Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Als er sich umdrehte, konnte er das Reetdachhaus immer noch sehen, obwohl es sich flach in die Landschaft duckte. Das Kribbeln in seiner Brust drohte zu erlöschen – und wenn das geschah, würde er wieder zu dem dicklichen Jungen werden, der am besten auf der Bank unterm Kirschbaum aufgehoben war. Ein Stubenhocker, der über Abenteuer las, anstatt sie zu erleben.
»Wenn ich jetzt umdrehe, dann werde ich den ganzen Sommer auf dieser verfluchten Bank verbringen«, gestand Arjen sich ein.
Möglicherweise wäre das nicht ganz so schlimm, schließlich hatte er die letzten Sommer auf diese Weise verbracht – lesend, puzzelnd, mit Zinnsoldaten spielend und der guten Dörchen beim Kochen helfend. Ihm hatten diese ruhig dahinfließenden Tage durchaus gefallen, aber dieses Jahr würde es anders sein, da war er sicher. Er musste hinaus in die Welt, er musste etwas erleben. Wenn er diesem Verlangen nicht nachgab, würde er platzen, so viel stand fest. Also ruckelte er die Riemen des Rucksacks zurecht und begann »Im Frühtau zu Berge« zu pfeifen, das einzige Wanderlied, das er kannte.
Arjen hörte das Meer schon lange, bevor er es sah. Sein Rauschen klang lockend in seinen Ohren, es sang
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