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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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von der Naturgewalt mit ihren schäumenden Kronen. Arjen musste jedoch immer noch eine Düne erklimmen, von deren Höhe er hoffte, endlich auf die See zu blicken. Sie übte eine sirenenhafte Anziehung auf ihn aus, und je näher er kam, desto mehr vergaß er seine schweren Beine und das Hemd, das verschwitzt an seinem Rücken klebte. Als er endlich auf das dunkle Blau blickte, tat sich eine neue Empfindung in seiner Brust auf: Die Schönheit des Meeres traf ihn unvorbereitet, strömte in ihn hinein, riss Türen auf und flutete Räume, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass sie in ihm existierten. Wie hatte er nur jeden Tag auf dieses Wunder blicken können, ohne diese Wucht zu empfinden? Vermutlich weil er das Wellenspiel für gewöhnlich unbeachtet ließ, nachdem seine Mutter ertrunken war. Für ihn war das Meer nicht einfach das Meer, sondern ein geheimnisvoller Ort, der ihn anzog und ihn zugleich mit Angst erfüllte.
    Sein Vater Thaisen liebte die See ebenfalls, allerdings mit jener Gelassenheit, die darauf beruhte, sich einer Sache sicher zu sein. Als geborener Hanseat hatte ihn das Meer von Geburt an begleitet und würde noch lange da sein, nachdem seine Seele längst zum Herrn berufen worden war. Für seinen Sohn hingegen war das Meer bislang so fern gewesen, als wäre er tief im Festland aufgewachsen. Zwar bildete der natürliche Hafen das Herz der Insel, und die meisten Kinder stammten aus Fischerfamilien, aber Arjen hatte, als er noch die Beekensieler Grundschule besuchte, höchstens die Kirche und den Krämerladen zu sehen bekommen. Laut Thaisen schickte es sich für den Sohn des Pastors nicht, sich herumzutreiben und Unsinn anzustellen – ganz gleich wie alt er war. Diese auferlegte Zurückgezogenheit hatte Arjen nie belastet, er hatte sich wohl gefühlt in der Reetdachkate inmitten der Wiesen und Felder. Das war zumindest so gewesen, bis ihm die Kate am heutigen Morgen ganz unvermittelt zu klein geworden war.
    Schnaufend erklomm Arjen den Dünenkamm, wo ihn sogleich eine Böe erfasste. Das Ziehen in seinen überanstrengten Muskeln ignorierend, richtete er den Rücken auf und streckte sich trotzig dem Wind entgegen. Dann blickte er auf das Meer, das immer noch vom Unwetter aufgewühlt war und dessen Wellen mächtig gegen den Strand schlugen. In der Senke unter ihm, umzäunt von zerzausten, geduckt dastehenden Birken, ragten die Überreste der Fischerkate auf. Auf dem Vorhof, zwischen dessen auseinanderklaffenden Steinplatten Strandflieder wuchs, lag etwas.
    Ein rotes Bündel.
    In dem Moment, als Arjen begriff, dass es eine Beuteltasche war, spielte ihm der Wind Stimmen zu. Jungenstimmen, die durcheinanderredeten. Es folgte ein Krachen, dann eine Pause und schließlich schallendes Gelächter. Arjen ahnte, wer dort unten Lärm veranstaltete. Die dröhnende Lache zumindest gehörte Haro Flennigs, mit dem er die vierte Grundschulklasse besucht hatte. Für Haro war es die zweite Runde gewesen – nicht etwa weil er ein Dummkopf war, obwohl man das bei seiner niedrigen Stirn leicht denken konnte, sondern weil er seinem Vater, einem Fischer, oft bei der Arbeit aushalf. Wenn man alle Sinne beisammenhatte, erwähnte man Haros Ehrenrunde nicht, er war nämlich ein Schrank von einem Jungen. Haro wusste nicht nur, wie man richtig zuschlug, sondern glaubte fest an das Gesetz des Stärkeren, vermutlich weil es immer auf seiner Seite war.
    Unschlüssig wie er sich angesichts dieser lauernden Ge fahr verhalten sollte, zupfte Arjen am Dünengras. Eine scharfe Kante schnitt ihm in den Finger. »Aua«, entfuhr es ihm viel zu laut. Voller Furcht blickte er auf die Ruine, wo man seinen Ausruf scheinbar nicht gehört hatte. Das Gerede der Jungen ertönte erneut, und als sie plötzlich aus der Ruine traten, sahen sie nicht in Arjens Richtung. Einer der Jungen, die auf dem Vorhof standen und Geröll mit ihren Stiefelspitzen wegkickten, war tatsächlich Haro Flennigs mit seinem Bürstenschnitt und seiner massigen Statur. Neben ihm stand Oke Sonstwie, gut zu erkennen an seinen Segelohren. Den dritten Jungen kannte Arjen lediglich vom Sehen. Seine Visage reichte allerdings aus, um ihn als jemanden einzuschätzen, dem man lieber aus dem Weg ging. Was für alle drei galt, vor allem wenn man sie als jüngeres Kind allein an einem abgelegenen Ort traf und sie sich nach dem nächsten Zeitvertreib umsahen.
    Als Haro die rote Tasche schulterte und sich in Arjens Richtung drehte, ließ er sich ins Gras fallen und vergrub das Gesicht

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