Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
zwischen Sand und Wurzelgeflecht.
»Das war auch höchste Eisenbahn, Bursche. Wärst du noch einen Moment länger offen in der Landschaft rumgestanden, hätte ich dich für vollkommen verrückt gehalten.«
Der herablassende Ton erklang direkt hinter Arjen, der einen Schreckensschrei ausgestoßen hätte, wäre sein Mund nicht voller Sand gewesen.
Sie haben mich erwischt!
Einen unerträglichen Moment lang geschah nichts.
»Sag mal, machst du alles mit einer gewissen Verzögerung? Dich in Sicherheit bringen, auf einen Überraschungsgast in deinem Nacken reagieren …«
Arjen dämmerte endlich, dass es keiner von Haros Kumpanen war, der ihn gestellt hatte, obgleich es eindeutig ein Junge war. Langsam drehte er sich auf den Rücken, wobei sich ihm der Verschluss der Feldflasche zwischen die Rippen bohrte. In seinen Ohren rauschte das Blut, doch es erzeugte keinen Druck, wie sonst immer in furchterregenden Situationen. Bislang waren das auch bloß Prüfungen in Mathematik oder eine der selten notwendigen Strafpredigten seines Vaters gewesen. Jetzt preschte das Blut von seinem Kopf hinab in seine Glieder, bis er glaubte, in den Stand springen und laufen zu können, bis er die Grenzen von Ostfriesland weit hinter sich gelassen hatte.
Als Arjen es endlich wagte, seinen Entdecker zu betrachten, stellte er fest, dass es keinen Grund zur Flucht gab. Denn im Dünengras hockte ein ihm unbekannter Junge, dessen Lächeln zwar frech, aber auch freundlich wirkte. Sonnengebleichtes Haar hing ihm in die Stirn, so lang, wie es keine Mutter auf Beekensiel erlauben würde. Außerdem war er höchstens ein Jahr älter als Arjen und um einiges schmächtiger. Wie er so vor ihm kauerte, überkam Arjen die Hoffnung, dass er es im Zweifelsfall durchaus mit dem Kerl aufnehmen konnte … Bis er den Blick des Jungen bemerkte. Nein, er hatte sich getäuscht: Er würde unterliegen, und zwar nicht nur bei einem körperlichen Kräftemessen. Diese blaugrauen Augen hatten bereits sehr viel mehr gesehen als seine – das erkannte er instinktiv.
Der Junge grinste ihn forsch an, wobei ein angeknackster Schneidezahn zum Vorschein kam, was Arjen seltsam faszinierte. »Schön den Kopf unten behalten«, forderte der Junge im Flüsterton. Im Gegensatz zu Arjen hatte er das Trio auf dem Vorhof nämlich nicht vergessen. Behände krabbelte er an den Grad und blickte hinab.
Arjen kam nicht umhin, den Geruch des Jungen wahrzunehmen: eine Mischung aus frischem Schweiß und Dünengras. Genauso wollte Arjen auch riechen, wild … unbändig – und nicht nach getrocknetem Lavendel und Dörchens Holzpolitur. Obwohl ihm seine Neugierde unangenehm war, konnte er nicht aufhören, den Jungen anzustarren. Nicht einmal seine Angst vor Haro und seiner Bande lenkte ihn ab. Der Junge trug keine Schuhe, umgekrempelte Hosen und ein kurzärmeliges Unterhemd, das seine goldbraunen Arme zeigte. Beklommen linste Arjen auf seine eigene blasse Haut, die er bis eben für ganz normal gehalten hatte, schließlich begann der Sommer gerade erst. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er wegen der Schule keine Zeit zum Rumstromern gehabt.
»Was ist?«, fragte der Junge. Als er ihn über die Schulter hinweg anblickte, bemerkte Arjen ein Lederband um seinen Hals. »Bist du immer noch fassungslos, dass du hier oben nicht allein auf Beobachtungsposten gewesen bist?«
»Beobachtungsposten?«, echote Arjen.
Der Junge hielt sich eine Hand über die Augen und blickte mit aufmerksamer Miene hinab. »Ich schau’ mir schon etwas länger an, was diese drei Schwachköpfe treiben. Die Ruine ist ein toller Rückzugsort, von den Erwachsenen kommt hier bestimmt keiner her. Aber den Heinis fällt nichts Besseres ein, als die wenigen Sachen, die noch vorhanden sind, kurz und klein zu schlagen und in die Ecken zu pinkeln. Jetzt, wo wir zu zweit sind, können wir sie endlich vertreiben.«
»Das halte ich für keine gute Idee.« Der Satz flog Arjen regelrecht von den Lippen, so eilig hatte er es, den Jungen umzustimmen. »Ich habe einmal miterlebt, wie Haro nach Unterrichtsschluss einem Schulkameraden den Arm auf den Rücken gedreht hat, bis es knackte. Das hat er nicht gemacht, weil die beiden gestritten haben. Nein, er hat es getan, weil er zeigen wollte, wie stark er ist. Dass er der Chef ist. Haro mag solche Sachen, sie sind wichtig für ihn.«
»Haro … Ist das der Muskelberg?«
Arjen nickte.
»Und wie heißen die anderen beiden?«
»Der mit den großen Ohren ist Oke, und von dem gemein
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