Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
darüber war, wie sehr ihn sein Äußeres beschäftigte. Irritierenderweise war er viel eitler als seine eher natürlich veranlagte Lebensgefährtin. Auch jetzt ging er wieder zu seinem Morgenritual über, die richtige Garderobe zusammenzustellen, nur um schließlich auszusehen, als verschenke er nicht eine Sekunde an solche Überlegungen. Eigentlich hätte Greta über seine Eitelkeit großzügig hinwegsehen können, wenn sie sie schon nicht als liebenswerte Macke abtat – aber es wollte ihr nicht gelingen. Eriks Lust am Darstellen störte sie nach wie vor, und es war sogar noch schlimmer geworden. Seit zwei Tagen stand nun zu befürchten, dass sein dauerhaftes Arbeiten an der Fassade sehr viel tiefer ging als vermutet, dass Erik den schönen Schein nicht bloß aufrechterhielt, sondern geradezu verinnerlicht hatte. Das Ausmaß dieser Erkenntnis lähmte Greta nach wie vor.
»Schatz, meinst du, es ist schon an der Zeit für einen Kaschmirpullover, oder werde ich mich in so einem Wollteil bloß zu Tode schwitzen? Na, komm, erzähl mir schon, was du von deinem Beobachtungsposten aus siehst.«
»Es wird kalt, du solltest dich besser warm anziehen. Sehr warm.«
Zwar sträubte sich alles in ihr, Erik anzusehen, aber sie tat es trotzdem. Sein Anblick war wie ein brennender Dorn, den sie sich selbst tiefer ins Fleisch rammte, anstatt sich von ihm zu befreien. Vier Jahre lang betrachtete sie diesen Mann schon und hatte sich ein ums andere Mal gefragt, was sie dabei empfand. Dabei war nie jenes eindeutige Gefühl erwacht, nach dem sie sich zunehmend sehnte, jener Moment, in dem ihre innere Stimme ihr zuflüsterte: »Es passt.« Während sie nun sein braungebranntes, auffallend angenehm geschnittenes Gesicht, seine durchtrainierten Schultern und den bestenfalls einen Tick gewölbten Bauch musterte, meldete sich die Stimme endlich, und zwar ohne eine Spur von Zweifel: »Es passt nicht.«
Was auch immer Erik in diesem Moment in ihren Augen las – den Bruch, der sich in ihr vollzog, erkannte er nicht. Stattdessen schenkte er ihr ein anzügliches Lächeln und verschwand im Schlafzimmer.
In der Tasche ihres Morgenmantels piepste ihr Handy. Die Nachricht, auf die sie wartete, war eingetroffen. Unabhängig davon, ob sie nun ihren Verdacht bestätigte oder nicht, sie würde diesen Mann verlassen … Und mit ihm ein Leben, das herrlich bequem und zugleich voller Herausforderungen war, genau wie dieses Haus auf der goldenen Seite des Zürichsees. So schön es hier ist, ich bin trotzdem nie heimisch geworden , tröstete Greta sich, nur um Tränen in ihren Augen zu spüren. Es war kaum fair, Erik sein aufgesetztes Gehabe anzukreiden, wo sie doch selbst eine Meisterin im Vortäuschen war. Sogar sich selbst hatte sie getäuscht, indem sie beharrlich an ihrer Beziehung festgehalten hatte, obwohl mit jedem Tag mehr Risse aufgetaucht waren.
Vorsichtig, als befürchte sie, sich zu verbrennen, tastete sie nach dem Handy und holte es hervor. War es wirklich nötig, dass sie die Nachricht überhaupt las, nun, da ihr klar geworden war, dass es ab hier nicht weiterging? Gewiss, sie war in Erik Brunner verliebt gewesen und sicherlich auch fasziniert von der Vorstellung, an der Seite eines Mannes wie ihm zu leben, der trotz seines rasiermesserscharfen Geschäftssinns auch ein facettenreicher und querdenkender Mensch war … oder zumindest zu sein schien. Aber das letzte Stück Weg, das es brauchte, um einen Menschen zu lieben, war in diesem Fall versperrt gewesen.
Gretas Finger fuhren unsicher über das schwarze Display. Nur ein Fingerstreich, und es würde ein neues Licht auf Erik Brunner werfen. Los, tu es , spornte sie sich an. Du musst wissen, wie sehr du dich getäuscht hast, ansonsten wirst du dir den Rest deines Lebens nicht mehr über den Weg trauen. Auch wenn es wehtut, du musst dich der Wahrheit stellen.
Und genau das tat Greta, wobei sie die Wahrheit viel härter traf als vermutet. Doch als am schwierigsten sollte sich das Aufstehen nach dem Fall erweisen, der Moment, in dem sie in die Zukunft blickte und sie vor lauter Bruchstücken der Vergangenheit nicht sah.
Endlich rang Greta sich dazu durch, den Weekender zu öffnen. Zu ihrem Verdruss stellte sie fest, dass er jede Menge Strümpfe, Yogakleidung, wirr hineingeworfene Kosmetik und eine Nackenrolle enthielt, jedoch kein einziges elegantes Oberteil, worauf sie gehofft hatte. Doch ihr fehlte schlicht die Zeit, um zum Auto zu laufen und in dem Chaos, das in seinem Inneren
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