Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Geschichte nur ein einziges Mal erzählen würde.
Das Geheimnis in Arjens Kindheit hörte also auf den Namen Ruben und hatte einen angeschlagenen Schneidezahn. Gre tas Versuch, diesen Gedanken amüsiert klingen zu lassen, scheiterte. Was ihr Großvater erzählt hatte, war amüsant gewesen, aber eben noch viel mehr als das … Und sie hatte den dringenden Verdacht, dass Arjen noch lange nicht alles erzählt hatte.
Jetzt aber war Greta bemüht, sich dem Sog des Sommers von 1939 zu entziehen. Sie hatten viel zu lange auf der Bank unter dem Apfelbaum gesessen, und nun drängte die Zeit. Die Familie würde gleich zum Essen aufbrechen, und sie hatte noch nicht einmal den Reißverschluss des Weekenders geöffnet, in dem sie ihre hastig zusammengeraffte Kleidung vermutete. Ihre Abreise aus Zürich hatte eher einer Flucht geglichen, und sie konnte sich lediglich daran erinnern, wie sie wahllos einzelne Stücke aus Kommoden und Schränken gezerrt hatte.
Anstatt sich jedoch für das Abendessen fertig zu machen, blieb sie sitzen, und ihr Blick wanderte zum Biedermeierschrank, der an der gegenüberliegenden Wand stand. Auf der einen Seite berührte seine Krone die Dachschräge, weil die Kammer kaum ausreichend Platz bot. Die Schranktüren schmückten je zwei eingelassene Rechtecke, und sie hatte diese klaren Linien schon immer geliebt. Als Jugendliche hatte sie die Kammer unterm Dach in Beschlag genommen und in ihr eigenes Reich verwandelt. Was ihr nicht weiter schwergefallen war, denn der Schrank hatte bereits an Ort und Stelle gestanden, während sie das Messingbett, an dessen Herkunft sich niemand erinnerte, im Keller gefunden hatte. Genau wie einige Rollen Tapete mit Rosenmuster, über deren Stockflecken sie großzügig hinwegsah. Die gesamten Herbstferien war sie damit beschäftigt gewesen, zu tapezieren, zu polieren, die Holzdielen zu ölen und eine Ikea-Matratze endlose Kilometer mit dem Fahrrad zu transportieren. Am Ende der Plackerei hatte sie einen eigenen Platz im Backsteinhaus erobert gehabt. Das war schon deshalb wichtig, weil sie oft bei ihrem Großvater war. Die Wohnung ihrer Eltern im Neubauviertel von Meresund war ihr immer beengend erschienen, obwohl Wencke und sie eigene Zimmer hatten und Anette sich unablässig bemühte, es ihnen so gemütlich zu machen, dass sie ihrer Meinung nach nie das Haus verlassen mussten.
Zuhause – das war für Greta schon immer das Backsteinhaus in der Asmussengasse gewesen.
Erst als Greta zum Studium Meresund verlassen hatte, begriff sie, dass es nicht das Haus war, das sie schmerzlich vermisste, sondern seine Atmosphäre, die zu gleichen Teilen aus Geborgenheit und Freiheit bestand. Ganze Regennachmittage, die sie ungestört mit Lesen verbrachte, und dann Damespielen am Küchentisch, wenn es ihr zu einsam wurde. Unabhängigkeit und große Nähe – diese Kunst beherrschte Arjen wie kein Zweiter, damit hatte er den Geist des Backsteinhauses und Greta gleich mit geprägt. Zumindest hatte sie das Gefühl, dass ihr inneres Fundament zu großen Teilen von ihrem Großvater gelegt worden war.
Irgendwann musste dieses Fundament allerdings einen Riss erfahren haben – anders konnte sie sich nicht erklären, warum sie mit Erik jahrelang in einer so vollkommen verkehrten Beziehung gelebt hatte. Obwohl sie sich dagegen wehrte, wanderten Gretas Gedanken zu jenem Moment, als sich ihre schon länger gehegten Befürchtungen bewahrheitet hatten, dass ihr Leben an Erik Brunners Seite ein Fehler war …
Ein Nebelfilm, der am frühen Morgen auf dem Zürichsee lag, verriet den Herbstanbruch, ein feiner Schleier, der die sowieso schon unwirkliche Aussicht unwirklicher denn je erscheinen ließ. Doch selbst wenn der Nebel nicht gewesen wäre, hätte Greta gewusst, dass die schöne Zeit des Jahres vorbei war, denn der Sandstein, mit dem das Wohnzimmer ausgelegt war, biss ihr vor Kälte in die nackten Fußsohlen. In den letzten Monaten dagegen hatte er sich angenehm warm angefühlt, wenn sie vor der breiten Fensterfront stand und ihren Tee trank.
»Wie sieht es draußen aus?«
Erik rief vom oberen Stockwerk, wo er gerade mit einem Handtuch um die Hüften übers Geländer lehnte, das zu lange Haar noch nass vom Duschen. »Meinst du etwa, ich sei zu alt für diese Art Haarschnitt?«, hatte er Greta mit einem Blinzeln gefragt, als sie ihn vorsichtig darauf aufmerksam gemacht hatte. »Nein, nicht zu alt«, hatte sie wahrheitsgemäß geantwortet und wohlweislich verschwiegen, dass sie bloß irritiert
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