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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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alle Geheimnisse des Lebens zu finden wären, werde ich niemals vergessen.
    Genau fünfzig Minuten sind es gewesen, denn zehn Minuten vor Mitternacht wurde die Stille plötzlich von zwei Revolverschüssen zerrissen, denen schrille Pfiffe einer Polizeipfeife und Schreckensschreie aus mehreren Kehlen folgten. Ich stieß die Tür auf und war wie der Blitz auf der Straße, voller Wut auf mich und auf Holmes, weil er mich überredet hatte, diesem gefährlichen Plan zuzustimmen.
    Dass Holmes es war, der geschossen hatte, stand für mich außer Frage. Aber hatte er die Schüsse als Warnung für mich abgefeuert oder befand er sich in Gefahr und musste sich selbstverteidigen? Der Nebel hatte sich etwas gehoben. Ich rannte über die Straße zum Eingang von Creer’s Place. Ich griff nach dem Türknopf und drehte ihn. Es war nicht abgeschlossen. Ich zog meine Waffe und stürmte hinein.
    Der trockene, betäubende Geruch von Opium stieg mir in die Nase. Er ließ meine Augen tränen und stach mir ins Hirn, so dass ich kaum zu atmen wagte, um nicht selbst unter den Einfluss der giftigen Dämpfe zu fallen. Ich stand in einem dumpfen, düsteren Raum, der im chinesischen Stil mit gemusterten Teppichen, roten Lampions und Seidentapeten geschmückt war, ganz wie Henderson es beschrieben hatte. Von ihm selbst war allerdings nichts zu sehen. Vier Männer lagen ausgestreckt auf niedrigen Polstern, neben sich die lackierten Tabletts mit den Opiumpfeifen. Drei von ihnen waren schon ohnmächtig und hätten genauso gut Leichen sein können. Der letzte hatte den Kopf aufgestützt, rauchte und starrte mit blindem Blick vor sich hin. Eines der Lager war leer.
    Ein Mann kam auf mich zugestürzt, und ich wusste sofort, dass es Creer selbst sein musste. Er war vollkommen kahl, seine Haut war weiß wie Papier und spannte sich so straff über den Schädel, dass er tatsächlich wie ein Totenkopf aussah, wozu die tiefliegenden schwarzen Augen noch beitrugen. Ich konnte sehen, dass er mich ansprechen und womöglich hinauswerfen wollte, aber dann sah er meinen Revolver und wich zurück.
    »Wo ist er?«, fragte ich.
    »Wer?«
    »Sie wissen genau, wen ich meine!«
    Meine Augen glitten an ihm vorbei zu einer offenen Tür am anderen Ende des Raumes und dem mit einem Gaslicht beleuchteten Gang dahinter. Ich stürmte an Creer vorbei, ohne auf seine Antwort zu warten, denn ich wollte dieses grässliche Loch so schnell wie möglich verlassen, ehe die Opiumschwaden michüberwältigten. Eine der Elendsgestalten am Boden rief mir etwas zu und streckte eine bittende Hand aus, aber ich ignorierte sie.
    Am Ende des Korridors befand sich eine weitere Tür, und da Holmes das Lokal nicht durch die Vordertür verlassen haben konnte, musste er hier durchgegangen sein. Ich stieß sie auf und spürte sofort den eiskalten Luftzug, der mir entgegenkam. Ich befand mich hinter dem Haus. Erneut hörte ich Schreie, dann das Rattern und Klappern einer Pferdekutsche und den schrillen Pfiff einer Polizeipfeife. Ich wusste schon, dass wir hereingelegt worden waren, dass alles schiefgegangen war. Aber ich hatte keine Ahnung, was zu erwarten stand. Wo war Holmes? War er verletzt? Oder tot?
    Ich lief eine schmale Gasse hinunter und durch einen Torbogen, bog um die Ecke und gelangte auf einen Hof, in dem sich bereits einige Leute versammelt hatten. Wo waren die alle um diese Zeit der Nacht hergekommen? Ich sah einen Herrn im Abendanzug, einen Polizisten und noch ein paar andere. Alle starrten sie auf etwas, das sie offensichtlich in den Bann schlug, denn keiner von ihnen trat vor und übernahm die Verantwortung. Ich drängte mich nach vorn durch die Menge – und werde nie vergessen, was ich dann sah.
    Es waren zwei Gestalten. Die eine war ein junges Mädchen, das ich nur allzu gut kannte, denn es hatte mich erst vor ein paar Tagen umzubringen versucht. Es war Sally Dixon, die ältere Schwester von Ross, die im Bag of Nails gearbeitet hatte. Sie hatte zwei Schusswunden, eine in der Brust und eine im Kopf. Sie lag in einer schwarz glänzenden Pfütze auf den schwarzen Pflastersteinen, und ich wusste, dass es ihr eigenes Blut war. Auch den Mann, der mit seinem Revolver in der ausgestreckten Hand bewusstlos vor ihr auf dem Boden lag, kannte ich.
    Es war Sherlock Holmes.

11

Unter Arrest
    Jene Nacht und das, was danach kam, habe ich niemals vergessen.
    Noch heute, da ich fünfundzwanzig Jahre später allein an meinem Tisch sitze, steht mir noch jede Einzelheit so deutlich vor Augen, als

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