Das Geheimnis meiner Mutter
sollte was „Besseres“ werden als Polizist in einer Kleinstadt. Aber das ist eine andere Geschichte. Heute sollte ich über Joey schreiben. Meinen Verlobten. Verlobten . Das sieht geschrieben so offiziell aus. Am Bahnhof hat Joey mir versprochen, dass er in einem Stück zurückkommt. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht zu weinen, aber Joey hat die ganze Zeit gelächelt. Er ist den Rangern so ergeben. Einer seiner Kumpel im Bataillon hat ihm gesagt, wenn er bei Bewusstsein ist, wenn ihn die Rettungskräfte heraustragen, hat er sich nicht genug ins Zeug gelegt. Sie lachen viel zusammen. Vielleicht ist das ihre Art, mit der Gefahr umzugehen.
Joey hatte noch eine Neuigkeit für mich. Er hat Rourke gebeten, sein Trauzeuge zu werden, und natürlich hat Rourke zugesagt. Und dann hat Joey ihn noch gebeten, auf mich aufzupassen, während er weg ist. Seine exakten Worte waren: „Pass auf sie auf, Mann. Ich weiß, das ist altmodisch, aber ich meine es ernst. Hab ein Auge auf sie.“
Rourke sagte, dass er das tun würde – als hätte er eine Wahl gehabt.
Warum haben Männer immer das Gefühl, auf Frauen aufpassen zu müssen? Hallo, wir stehen kurz vor einem neuen Jahrtausend, und ich leite eine eigene Firma, seitdem ich siebzehn bin. Ich denke, ich kann ganz gut alleine auf mich aufpassen. Aber es ist auch süß von Joey, dass er sich Sorgen macht. Süß und vielleicht ein kleines bisschen erdrückend.
Und dann hat er mich so lange und intensiv geküsst, dass es mir schon fast ein wenig peinlich war. Versteh mich nicht falsch – ich wollte den Kuss. Joey ist Soldat und fuhr wieder weg. Ich wollte ihn mir irgendwie einprägen, doch stattdessen konnte ich nur daran denken, dass wir inmitten all der Leute standen und uns küssten, als gäbe es kein Morgen. Ich wünschte, ich hätte mich von dem Kuss davontragen lassen, hätte die ganze Welt um mich herum vergessen können, aber meine Gedanken schweiften immer wieder zu den umstehenden Menschen ab. Dann musste Joey einsteigen – „Wir sehen uns, Sweetheart“, sagte er, als wenn er nur in die nächste Stadt führe und nicht einmal um die halbe Welt. Dann war er fort.
Als ich dem Zug hinterhersah, wie er den Bahnhof verließ, schaute ich Rourke nicht an. Ich konnte es nicht. Ich fürchtete mich vor dem, was ich in seinen Augen sehen würde.
Kennst du dieses Gefühl, Mom? Wenn du etwas anschaust, bist du gezwungen, es wahrzunehmen, und damit wird sich alles verändern?
Nun ist Joey also in Übersee und tut Dinge, die ich mir nicht mal vorstellen kann, und das Leben geht weiter. Ich leite die Bäckerei. Ich kümmere mich um Granny. Von Rourke sehe ich dieser Tage wenig. Er trifft sich mit vielen verschiedenen Mädchen und arbeitet hart. Ab und zu ruft er an, um zu fragen, wie es mit Granny und der Bäckerei geht. Ich nehme an, damit will er sein Versprechen einlösen, „ein Auge auf mich zu haben“.
Und warum zum Teufel stelle ich irgendetwas davon infrage? Joey betet mich an. Ich bete ihn an. Wenn wir erst mal verheiratet sind, will er, dass wir so lange bei Granny leben, wie sie uns braucht. Er hat einen großartigen Dad. Ich liebe Bruno wie einen Vater. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, nimmt er mich in seine dicken, starken Arme. Er riecht nach Haaröl und Pfefferminzkaugummi, und er hat mir erzählt, Joey habe ein Herz wie ein Löwe.
Joey hat genügend Vertrauen für uns beide. Er weiß ohne den Hauch eines Zweifels, dass ich schon immer die Eine für ihn gewesen bin. Er sagt, er hat es schon gewusst, als wir noch Kinder waren.
Ich wünschte, ich könnte das Gleiche sagen. Aber rate mal? Ich weiß es immer noch nicht.
Jedes Jahr sage ich mir, dass ich dich endlich nicht mehr brauche, Mom. Endlich bin ich dem entwachsen, dich zu brauchen. Und dann ertappe ich mich doch wieder dabei, mir zu wünschen, du wärest da, weil ich so viele Fragen habe. Woher weiß man, dass man das Richtige tut? Gibt es irgendwelche Zeichen, oder muss man es einfach ausprobieren, auf das Beste hoffen und beten, dass es kein riesiger Fehler ist?
Wofür soll es gut sein, dass ich etwas will, was ich niemals haben kann? Die Sache ist die: Vielleicht liege ich falsch, aber ich glaube es nicht – ich habe das Gefühl, dass Rourke das Gleiche empfindet. Und er hat genauso viel Angst wie ich.
Präsident Clinton wurde auf NPR zur Intervention der USA im Kosovokrieg interviewt, und Rourke wollte zuhören, weil er annahm, dass Joey dorthin entsandt worden war. Doch anstatt dem
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