Das Geheimnis meiner Mutter
voranschreiten zu müssen, zu dem Augenblick, in dem sie sich dem stellen müssten, was passiert war.
Irgendwann zog Jenny sich zurück. „Ich habe noch mehr Champagner“, sagte sie mit einer Geste in Richtung Küche.
Rourke fühlte sich, als würde er in Flammen stehen, als er in die Küche ging, die Flasche fand und öffnete. Es erschien ihm unangemessen feierlich, aber er tat es trotzdem. Er wusste, dass diese spezielle Flasche aus der Kiste kam, die seine Eltern Joey als Glückwunsch zu seiner Verlobung geschickt hatten. Ein Blanc de Blancs, eine von nur tausend abgefüllten Flaschen. Rourke trank den ungekühlten Champagner direkt aus der Flasche. Dann senkte er sie und schaute durch den Raum zu Jenny hinüber. Schneewittchen, dachte er. Sie war so blass, ihre Haare und Augen so dunkel. Und gequält, von einer Traurigkeit, die so tief war, dass er sie in seiner Brust spüren konnte.
„Deine Großmutter …?“, fragte Rourke.
„Sie schläft schon. Sie hat auch schon geschlafen, als Bruno angerufen hat. Sie weiß noch nichts davon, und ich werde ihr vielleicht noch eine weitere friedvolle Nacht gönnen, bevor ich es ihr sage.“ Jenny schaute in den Flur, der zum Schlafzimmer ihrer Großmutter führte. „Lass uns nach oben gehen. Ich will Granny nicht aufwecken.“
Rourke fühlte sich wie aus Holz, als er Jenny die Treppen hinauf folgte. Als Jennys Großmutter krank geworden war, konnte sie die Stufen nicht mehr alleine bewältigen, also hatte man ein Zimmer im Erdgeschoss zum Schlafzimmer für sie umgebaut. Das Obergeschoss war jetzt ganz Jennys Reich, in dem sie ihre Zeit damit verbringen konnte zu schreiben und auf Joey zu warten. Wenn sie verheiratet waren, hatten sie hier zusammen wohnen wollen. Wenn sie verheiratet waren … Mit zitternder Hand hob Rourke die Champagnerflasche erneut für einen großen Schluck an die Lippen.
Als Jenny endlich anfing zu sprechen, klang ihre Stimme weich und ungläubig. Sie wiederholte die Nachricht, als hätte sie sie in ihrem Kopf wieder und wieder aufgesagt – es gab ein Unglück mit einem Transporthelikopter. Niemand aus Joeys Bataillon hat überlebt.
Rourke spürte keinen Schock, sondern nur die kalte, grausame Hand des Schicksals. Während sie ihm die wenigen Einzelheiten erzählte, die sie wusste, tranken sie die Flasche aus und öffneten eine weitere. „Er und sechzehn andere waren in einem Chinook-Helikopter irgendwo im Kosovo. Er ist in eine Schlucht gestürzt, und es hat keine Überlebenden gegeben. Die Namen werden erst in ein paar Tagen offiziell verkündet, aber Bruno wusste es schon. Er hat einen Anruf übers Satellitentelefon von jemandem aus dem Bataillon erhalten.“ Ihre Stimme brach. „Es ist noch nicht offiziell, es hat noch keine formelle Verlustmeldung gegeben. Aber … keine Überlebenden.“
Eisiger Schmerz heulte durch Rourkes Körper. Joey. Sein bester Freund. Sein Blutsbruder. Der beste Kerl der Welt. Ein paar Sekunden lang hatte Rourke das Gefühl, nicht atmen zu können.
Jenny sah ihn an, und in ihrem Gesicht spiegelte sich seine Qual.
Rourke hasste es, dass sie alleine gewesen war, als der Anruf kam. „Und Joeys Dad …“
„Er ist bei seiner Schwester in New York. Ich schätze, ich werde – wir werden – ihn … Oh mein Gott. Wird es ein Begräbnis geben? Einen Gedenkgottesdienst?“
„Ich weiß es nicht. Wer kennt sich mit diesen Sachen schon aus?“ Er sah Bilder von Joey vor sich. Ein albernes Kind mit großen Ohren, das zu einem Mann herangewachsen war, den jeder mochte. Sie hatten alle wichtigen Ereignisse ihres Lebens miteinander geteilt. Von verlorenen Zähnen über verlorene Kätzchen, Siege und Niederlagen im Sport, Schulabschlüsse und natürlich die Sommercamps. Rourke fühlte sich, als hätte man ihm gerade ein Körperteil abgetrennt.
Und doch, durch das leere Pfeifen der Trauer in ihm drückten sich noch andere Gefühle an die Oberfläche … Schuld und Traurigkeit, Zärtlichkeit und Wut.
Eine ganze Zeit lang betrachtete er Jennys Gesicht. Er fand ein Taschentuch und trocknete ihre Tränen. Dann beugte er sich vor und hielt sie auf eine Art, auf die er sie noch nie gehalten hatte. Nicht einmal, als er es gewollt hatte, nicht einmal, als sie ihn praktisch angefleht hatte. Seine Arme umfingen sie, als wenn er sie vor einem Bombenangriff beschützen wollte. Er hielt sie so, dass er ihren gesamten Körper an seinem spürte, sogar ihren Herzschlag fühlte, und dennoch war es nicht nah genug. Er berührte sie
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