Das Geheimnis meiner Mutter
alte Betonkonstruktion mit zwei hohen Bögen, die sich über die tiefe Schlucht spannten.
„Gerüchte besagen, dass man sie auch die Selbstmordbrücke nennt“, sagte Sonnet. „Ich habe gehört, dass ein unglückliches Liebespaar sich umgebracht hat, indem es von dieser Brücke gesprungen ist.“
„Ja, und in windigen Nächten kann man ihre Geister heulen hören“, sagte Zach.
Sonnet stieß ein beleidigtes Schnauben aus. „Das hier ist Washington-Irving-Land, hier gibt es zur Landschaft die Geistergeschichten gratis dazu.“
Daisy schoss ein Foto von ihrer Freundin, deren Gesichtsausdruck gleichzeitig genervt und süß war.
Als wenn sie die Aufmerksamkeit gespürt hätte, drehte Sonnet sich zu ihr um. „Hey, was würdest du dazu sagen, wenn ich dich bitte, mein Senior-Foto zu machen? Also das für das Jahrbuch?“
Daisy war überrascht und fühlte sich geschmeichelt. „Sicher, warum nicht.“
„Ich würde dich natürlich auch dafür bezahlen“, sagte Sonnet.
Sonnet und ihre Mom mussten jeden Penny zweimal umdrehen, um genügend Geld fürs College zu sparen. „Ich würde aber keine Bezahlung annehmen“, sagte sie und probierte verschiedene Winkel aus, wie sie Sonnet am besten aufnehmen könnte.
„Aber ich würde darauf bestehen“, meldete sich Sonnets Gerechtigkeitssinn zu Wort. „Dale Shirley nimmt dreihundert Dollar. Da müsste ich wochenlang sparen, um mir das leisten zu können.“
Shirley war ein gut beschäftigter Fotograf im Ort, dessen Arbeit die Broschüren der Handelskammer, den jährlichen Weihnachtskalender, den das Rathaus verschenkte, und natürlich das Jahrbuch der Avalon Highschool zierte. In Daisys Ohren klang es wie ein Traumjob, dafür bezahlt zu werden, Fotos zu machen. „Er kann was dafür verlangen, weil er die ganzen Referenzen und ein Studio und so hat“, sagte sie.
„Nee“, widersprach Zach. „Das liegt daran, dass er einfach schon immer da ist. Ich will mich auch nicht von ihm fotografieren lassen, aber mein Dad wird mich vermutlich dazu zwingen.“
Zachs Dad war immer darauf bedacht, gut dazustehen für die nächste Bürgermeisterwahl.
„Nicht, wenn ich ein besseres Foto mache“, sagte Daisy und schoss ein aufrichtiges Foto von Zach, während er über seinen Vater nachdachte. Zach war für den Schnee gemacht, wie ein Wolf. Seine blonden Haare, die weiche, glatte Haut und die unglaublich hellblauen Augen ließen ihn wild und wie nicht von dieser Welt aussehen.
Sonnet schaute über Daisys Schulter auf das gerade gemachte Foto. „Verrückt“, sagte sie. „Du siehst aus wie das Aushängeschild für die Aryan Nation.“
Er bewarf sie mit einer Handvoll Schnee, der in einer Wolke zerbarst, als er ihre Schulter traf. „Sei still“, sagte er.
„Sei selber still.“
Daisy richtete die Kamera auf die beiden. Sonnet war ein williges Objekt und nahm sofort eine Modelpose ein. Sie stützte die Hände in die Hüften und warf ihren Kopf zurück. Die Strickmütze konnte Sonnets wilde Locken nicht mehr bändigen, und Daisy fing genau diesen Moment ein. Sie wusste sofort, dass das ein großartiges Foto geworden war. Sonnet war keine Highschoolschönheit im üblichen Sinne, und sie hasste ihr Aussehen, aber das war in Daisys Augen verrückt. Sonnet war auf eine Weise umwerfend, die Higschooljungs noch gar nicht erfassen konnten. Ihre samtene Haut hatte die Farbe von Café au Lait, dazu kamen die pechschwarzen Locken. Ihr breiter Mund und die leicht schräg stehenden, beinahe mandelförmigen Augen verliehen ihr eine Aura des Mysteriösen – bis sie lächelte, dann war sie so offen und freundlich wie ein junger Hund.
Sonnet ließ Daisy so viele Fotos machen, wie sie wollte. Geduldig nahm sie eine Pose nach der anderen ein. Das war auch eine Seite an ihr, die Daisy so mochte: ihr Sportsgeist. Sie hatte einfach generell eine großartige Einstellung. Wobei das Lustige war, dass von allen Jugendlichen, die Daisy kannte, Sonnet Romano die meisten Gründe dafür hatte, sich eine Null-Bock-Haltung anzueignen, in der Schule durchzufallen oder ein Faulpelz zu sein. Sie war die uneheliche Tochter einer Teenager-Mutter, sie war ein Mischling, und sie und ihre Mutter kamen gerade so über die Runden.
Doch obwohl das alles eher Hindernisse waren, war Sonnet eine Einserschülerin, die eine Klasse übersprungen hatte. Sie war eine mehrfach ausgezeichnete Schülerin, eine talentierte Musikerin und Aushilfslehrerin im Kindergarten. Sie war durch eine vorgezogene Entscheidung am
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