Das Geheimnis meiner Mutter
steigen Sie ein.“
Jenny schloss ihre Augen, stellte sich vor, an einer tiefen Schlucht zu stehen, bereit zu vertrauen und den Sprung in eine Zukunft mit Joey zu wagen. Gegen ihren Willen dachte sie an Rourke. Natürlich dachte sie an Rourke, denn er war der einzige Mensch, der in diesem Moment noch etwas hätte ändern können. Wenn er nur etwas gesagt, ihr irgendein Zeichen gegeben hätte, dass er Gefühle für sie hatte, hätte das alles geändert. Aber seit der Nacht des Feuerwerks hatte er sich von ihr ferngehalten. Er schien sich sogar größte Mühe zu geben sicherzustellen, dass sie mitbekam, mit wie vielen Mädchen er sich verabredete. Das war genau das Zeichen, nach dem sie suchte, das wusste sie. Es war nicht das, worauf sie gehofft hatte, aber er sagte ihr damit laut und klar, wo ihr Platz in der Hackordnung war.
Joey umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. Er musste wohl den Anflug von Tränen in ihren Augen gesehen haben. „Alles wird gut“, sagte er, die Tränen missverstehend. „Ehe du dich versiehst, bin ich zurück. Wir werden hier leben und uns so lange um deine Großmutter kümmern, wie sie uns braucht. Das schwöre ich.“
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Er hatte so sanfte Augen, so eine liebenswürdige Art. Und am wichtigsten: Er würde ihr niemals das Herz brechen. Er war perfekt für sie – loyal und zärtlich und hingebungsvoll.
„Letzter Aufruf“, ertönte die blecherne Stimme erneut. „Das ist der letzte Aufruf für den Zug nach Süden.“
„Ich muss los.“ Joey nahm ihre linke Hand und drückte ihr einen Kuss auf die Handfläche. Dann schloss er ihre Finger darum. „Ich rufe dich an, sooft es geht. Und ich schreibe dir jeden Tag.“
„Viel Glück“, sagte sie, gegen Tränen ankämpfend. „Pass auf dich auf.“
„Das werde ich.“
„Versprich es mir, Joey. Bleib in Sicherheit, egal, was passiert.“
„Natürlich.“
Ein Pfiff ertönte. Joey beugte sich noch einmal vor und gab Jenny einen Kuss. Dann schnappte er sich seinen Seesack und rannte durch die Bahnhofshalle auf den Bahnsteig. Sie konnte ihn auf der anderen Seite des schmiedeeisernen Zauns wiederauftauchen sehen. Er trat auf die unterste Stufe eines Waggons und drehte sich noch einmal um, um ihr ein letztes Mal zuzuwinken. Staub wirbelte vom Bahnsteig auf und nebelte ihn ein, als der Zug langsam davonfuhr.
Jenny stand einfach in dem kleinen Park vor dem Bahnhof und starrte auf die leere Stelle, wo eben noch der Zug gestanden hatte. Die Luft war heiß und roch nach Asche, und alle Geräusche waren seltsam gedämpft – der Verkehr, die Stimmen der vorbeigehenden Leute. Irgendwann setzte sie sich auf die Bank. Mit ihrem linken Daumen berührte sie den harten Kreis von Joeys Ring. Was habe ich nur getan, fragte sie sich wieder und wieder. Was habe ich nur getan?
Sie verlor sämtliches Gefühl für die Zeit. Es konnten Minuten oder Stunden vergangen sein. Die nachmittäglichen Schatten glitten über sie hinweg. Im Glockenturm des Rathauses erklang eine Glocke. Endlich stand Jenny auf und wischte sich die Handflächen an ihrem Rock ab. Sie sollte besser nach Hause gehen. Granny machte sich bestimmt schon Sorgen.
Aber Granny sah überhaupt nicht besorgt aus. Sie erwartete sie. Ihr weißes Haar war von der Krankenschwester, die tagsüber nach dem Rechten sah, frisch frisiert worden. Im Fernsehen lief die Oprah-Show, aber als Jenny eintrat, stellte Granny den Fernseher aus.
Jenny setzte sich ihrer Großmutter gegenüber in einen Sessel. Sie war immer noch verwirrt. Nach einem tiefen Atemzug streckte sie ihre Hand mit dem Ring aus. „Den hat Joey mir geschenkt. Er möchte mich heiraten.“
„Ja“, sagte Granny. „Ich weiß. Er hat mich gefragt.“ Grannys Lächeln war ein wenig schief, ein Nebeneffekt des Schlaganfalls. Doch ihre Augen leuchteten vor Freude. „Es ist so ein Segen. Ich habe mir immer gewünscht, dass du jemanden findest, der dich ansieht und sieht, was ich sehe. Er wird dich glücklich machen.“
„Ich habe Angst“, gab Jenny zu. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn so liebe, wie es für eine Heirat angebracht wäre.“ Sie hatte Träume. Ziele. Sie wusste nicht, ob irgendeines davon von dieser Hochzeit profitieren würde. „Ich habe nicht Ja gesagt.“
„Du hast aber den Ring angenommen.“
„Oh, Granny.“
„Joey ist ein guter Mann. Er ist wie wir, nicht wie ein reicher Junge, der sorglos mit deinem Herzen umgeht.“
„Ich will nur sicherstellen, dass ich nicht
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