Das Geheimnis von Compton Lodge
es für die Person ebenfalls eine Wahrheit dar.«
Ich unterbrach ihn: »Sie wollen mit Ihrer reichlich komplizierten Erklärung doch eigentlich nur sagen, dass verschiedene Personen oder Gruppen zu wissen glauben, was richtig ist.«
Er nickte anerkennend.
»Und dann gemäà dieser, ihrer Wahrheit handeln. Und genau das birgt enorme Schwierigkeiten, denn in diesem Fall gibt es nur wenige, die sich de facto für bestimmte tragische Ereignisse verantwortlich fühlen.«
»Und deshalb sind wir im Liegenschaftsamt?«, fragte ich mit leicht verständnislosem Unterton, ob seiner belehrenden, doch nicht wirklich erhellenden ÃuÃerung.
»Watson, es müssen Fakten gesammelt, bewertet und in den rechten Zusammenhang gestellt werden. Und genau deshalb muss ich schnell noch etwas verifizieren. Ich bin gleich wieder da. Warten Sie bitte einen Augenblick auf mich!«
Damit verschwand er in der Tür des Liegenschaftskatasters. Als er nur wenig später zufrieden dreinschauend vor mir stand und die Ordnung und Präzision des Hauses lobte, war ich mir sicher, dass wir einen entscheidenden Schritt vorangekommen waren, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wieso. Wir verlieÃen das Amt und machten uns sogleich wieder auf den Weg. Es dämmerte, als wir endlich die Zufahrt von Compton Lodge erreichten. Dort stoppte Holmes unser Gefährt und machte das Pferd an einem Baum fest. Ich war einigermaÃen erstaunt.
»Wir hetzen über die LandstraÃe, als wären uns die Häscher auf den Fersen und jetzt machen wir an der Zufahrt Halt?«
»Lieber Freund, vertrauen Sie mir.«
Wir liefen in weitem Bogen um das Anwesen herum und erreichten die Rückseite des Gebäudes. Holmes öffnete mit schnellem Griff den bereits bei unserem letzten Eindringen aufgebrochenen Fensterladen zur Küche hin. Er hielt mich an, keine Zeit zu verlieren, entzündete seine Gaslampe und ging voran. Im Gegensatz zu unserem ersten Besuch beeilte er sich, die Eingangshalle zu erreichen. Zufrieden stellte er fest, dass das Bild noch an seinem Platz hing. Normalerweise hätte er mich gefragt, was mir daran auffiel, aber die Zeit schien knapp und so begann er mit gesenkter Stimme seine Beobachtungen zu erläutern.
»Warum also hängt hier dieses eine Bild? Vor allem, wenn es, natürlich in stark abgewandelter Form, das gleiche Thema hat wie das in der St. Martinâs Church, nämlich Compton Lodge. Es ist ein herbstliche, fast winterliche Ansicht. Wenige Blätter an den Bäumen, Regen. Würden Sie sich, wenn Sie ein Bild aufhängen wollten, nicht viel eher für eine Frühlings- oder eine schön anzusehende Herbstansicht entscheiden? Was also steckt dahinter?«
Während der Ansprache hatte er nicht einmal zu mir herübergeschaut, sein Blick verharrte starr auf dem Bild des Anwesens vor uns. Es stimmte mich fast ein wenig versöhnlich, dass Holmes selbst nicht genau zu wissen schien, was er suchte. Schon seit unserer ersten Begegnung im chemischen Laboratorium des St. Bartholomew Hospitals bewunderte ich seine Ausdauer, die scharfe Beobachtungsgabe und Leidenschaft, mit der er Aufgaben anging. Aber so faszinierend er auch war, mit ihm tauschen wollen, hätte ich ob seines zu Exzessen neigenden Wesens und der melancholischen Anwandlungen unter keinen Umständen.
»Ha! Watson, sehen Sie hier!«
Er deutete auf eine Stelle des Bildes, wo vor dem Schuppen eine groÃe Anzahl herabgefallener Blätter auf dem schlammigen Boden lagen. Der Detektiv zeichnete mit seinen Fingern etwas nach, immer wieder, bis auch ich erkannte, worum es sich handelte.
»Gefallenes Laub in Form eines Vogels, Holmes?«
»In der Tat, ein Vogel. Beachten Sie, wohin der Schnabel zeigt. Aber wir müssen erst noch etwas im Haus untersuchen. Ich hatte Ihnen ja bereits angedeutet, dass es neben dem Gemälde noch ein weiteres, grundlegendes Indiz gibt, den Spiegel. Ãbrigens liefert das Bild auch dazu einen deutlichen Hinweis. Eine Idee vielleicht, Watson?«
Ich musste passen. Damit eilte er, ohne mich aufgeklärt zu haben, die langgezogene Treppe nach oben und machte vor Sir Edwards ehemaligem Raucherzimmer Halt. Holmes bedeutete mir, von jetzt an zu schweigen und für alle Fälle meinen Revolver griffbereit zu haben. Wir betraten den Raum und näherten uns dem kleinen Spiegel, der schon bei dem ersten Besuch auf Compton Lodge unsere Aufmerksamkeit geweckt hatte. Er
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