Das Geheimnis von Compton Lodge
dann haben wir alles, was wir brauchen. Manches stellt sich doch anders dar, als man es sich in seinem Kopf ausmalt.«
Er zog eine weitere schmale Mappe aus dem Ordner und legte sie zu einer zweiten, die er bereits herausgesucht hatte, und bat mich ihm zu helfen, alles andere wieder ordentlich im Schrank zu verstauen.
»Wir müssen uns beeilen, mir nach! Eines noch, Ihr Blick weicht bitte nicht von meinem Rücken.«
Holmes schloss die Schiebetür hinter sich. Ich hatte den Eindruck, dass mich von allen Seiten Gesichter angafften. Wie schon zuvor wuchs der Druck auf meinen Brustkorb. Nur mit äuÃerster Disziplin gelang es mir, die Augen nicht den Spiegelwänden zuzuwenden. Holmes stand mitten im Raum und schien etwas zu suchen. Ich hatte das Gefühl, als würden mich die Spiegel wie Sirenengesänge verlocken wollen. Ich stürzte in meiner Bedrängnis an Holmes vorbei auf den Ausgang des geheimen Zimmers zu, konnte es jedoch nicht unterlassen, noch einen Blick auf einen der Spiegel zu werfen; zu meinem Entsetzen schien mir mein verstorbener GroÃvater ins Gesicht zu starren. Ich schrie auf, stürzte nach drauÃen, fiel zu Boden und verlor die Besinnung.
»Wie geht es Ihnen jetzt?«, wollte mein Gefährte wissen, nachdem er sich wohl schon eine Weile um mich gekümmert hatte.
»Besser, viel besser, aber â¦Â«, ich deutete mehrfach auf das wieder hinter der Wand verschwundene Zimmer zu meiner Rechten.
»Es ist alles in Ordnung, mein lieber Watson. Sie haben sich mehr als tapfer geschlagen. Sind Sie bereit, noch einmal das Nebengebäude mit mir zu inspizieren?«
Ich nickte schwer. Holmes half mir aufzustehen und wies mich darauf hin, dass man mit solchen katoptrischen Räumen ganz auÃergewöhnliche Effekte erzielen könne, unter anderem durch das Präparieren der Spiegel. Und dass diese auf ihre ganz eigene Art eingesetzt worden seien.
»Katharsis, seelische Reinigung, mein lieber Watson. Modern formuliert würde man es eher die psychische Reinigung durch einen affektiven Schock nennen. Also, man erschüttert einen Menschen in seinem Innersten und reinigt ihn so.«
»Würden Sie die Güte haben und mir bitte erklären, was das mit unserem Fall zu tun hat?«
»Es hat mit Ihrer Vergangenheit und damit zwangsläufig auch mit unserem Fall zu tun.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Sie waren schon einmal in diesem Raum.«
Mich traf die Erkenntnis weniger hart, als ich vorher angenommen hätte. Sollte dies tatsächlich das verschwundene Zimmer sein, von dem ich in meinem Delirium gesprochen hatte? Es schien durchaus möglich. Man hatte mich wohl in diesem Zimmer festgehalten. Aber warum? Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen. Holmes hängte den Spiegel zurück an seinen Platz und klappte das Paneel wieder zu. Wir erreichten die Küche und verlieÃen das Haupthaus von Compton Lodge so wie wir gekommen waren, nämlich durch das Fenster.
»Sie meinen, dass man versucht hat, mich zu ⦠reinigen? Das ist doch vollkommen absurd, Holmes«, setzte ich nach.
»Später, werter Freund, später.«
Holmes lief nah an der Hauswand in Richtung Nebengebäude, umrundete es und rückte bis zur Holztür vor, die er ja schon einmal, bei unserem ersten Besuch, durch das Anheben des Türblattes und einen festen Stoà geöffnet hatte. Er wiederholte den Vorgang; erneut sprang die Tür auf und Staub wirbelte auf. Wir warteten einen Moment und betraten den Innenraum. An der Stelle, wo wir bei unserem letzten Besuch den Keller entdeckt hatten, blieb er stehen und gab mir ein Zeichen, ihm zu helfen. Er flüsterte mir zu, dass, falls sich die Klappe dieses Mal öffnen lassen sollte, sie nur so weit wie unbedingt nötig anzuheben sei. Ein leises Eins-Zwei-Drei folgte und zu meiner Ãberraschung waren wir dieses Mal erfolgreich, jemand musste die Klappe von innen entsichert haben. Wir sahen in die Schwärze hinab.
»Von jetzt an kein Wort mehr.«
Die Treppe war breit und steil, der Keller gut und gerne acht Fuà hoch. Bald standen wir in einem rechteckigen, steinwandigen Raum, der als Lagerraum zu dienen schien. Holmes lief hin und her, leuchtete erst eine Kiste mit altem Werkzeug und dann einen recht ramponierten Kerzenleuchter an. SchlieÃlich bewegte er sich zielstrebig auf zwei groÃflächige, gerahmte Gegenstände zu, die an einer der Wände
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