Das Geheimnis von Digmore Park
Auge.
Im Feld in Spanien hatte Major Dewary oft Leitern erklommen und war in Häuser eingestiegen, die sie erobert hatten. Mit schnellem, sicherem Tritt gelangte er nach unten. Erst als er zur vorletzten Sprosse kam, hätte ihn doch noch beinahe etwas ins Straucheln gebracht. Denn als er zu seinem Cousin hinüberblickte, war dieser nicht mehr allein. Auf einmal stand die jüngste Miss Bendworth einige Meter hinter ihm.
„Lady Vivian?!“, rief er aus. Er konnte es nicht fassen, seine Verlobte leibhaftig vor Augen zu haben. Wie oft hatte er sich in Spanien ein Wiedersehen herbeigewünscht! Und wie fremd war ihr Anblick jetzt, da sie tatsächlich in seiner Nähe war.
Elizabeth beugte sich etwas weiter aus dem Fenster. Was hatte er gesagt? Sie musste sich verhört haben. Doch er sagte es noch einmal.
„Lady Vivian, das ist doch nicht die Möglichkeit! Stehen Sie da wirklich und wahrhaftig vor mir? Was bringt Sie hierher nach Digmore Park?“
Lord Bakerfield fuhr herum. „Ich habe dich doch ausdrücklich gebeten, im Haus zu bleiben!“ Seine Stimme klang äußerst ungehalten. Elizabeth, die sich nun sicher war, Dewary richtig verstanden zu haben, war weit davon entfernt, ansonsten irgendetwas zu verstehen. Wie kam er dazu, in Lady Bakerfield seine Verlobte zu erkennen? Wo kam sie überhaupt so plötzlich her? War sie das etwa an der Ligusterhecke gewesen? Elizabeth musste schmunzeln. Hatte sie etwa tatsächlich ihre Ladyschaft mit einem streunenden Hund verwechselt?
Vivian schien vor Wiedersehensfreude geradezu zu zerschmelzen. „Was bringen in solchen Augenblicken lange Erklärungen? Nichts zählt, als dass ich Sie endlich wiedersehe, Major Dewary!“
Lady Bakerfield stand da, die Arme weit ausgebreitet, so als würde sie damit rechnen, dass der Major zu ihr hinübereilen und sich ihr an den Busen werfen würde. Doch der war wie angewurzelt am Fuß der Leiter stehen geblieben. Wie kam seine Verlobte nach Digmore Park? Und wie kam sein Cousin dazu, sie so unwirsch anzufahren? Dessen Tonfall klang nun bei Weitem nicht mehr so zornig, als er sich Dewary zuwandte. Er klang eher schuldbewusst. „Ich weiß, ich bin dir eine Erklärung schuldig, Cousin. Doch können wir das nicht alles auf später verschieben? Jetzt ist es wichtig, dass du in Sicherheit …“
„Dewary!“ Lady Bakerfield hatte wieder ihren Schmollmund aufgesetzt. „Du kannst mich doch hier nicht so stehen lassen! Wenn du wüsstest, was ich in den letzten Wochen alles durchgemacht habe. Die Sorge, die Ungewissheit …“
Sie brach in Tränen aus. Und sah dabei so verletzlich und schutzbedürftig aus, dass der Major gar nicht anders konnte, als zu ihr hinüberzugehen, um sie zu trösten. Fast übermächtig wurde sein schlechtes Gewissen, dass er sie bald noch viel mehr würde kränken müssen. Er wusste, dass Elizabeth ihn vom Fenster aus beobachtete. Hoffentlich bekam sie seine höfliche Geste nicht in den falschen Hals.
Etwas rührte sich in der Hecke. Elizabeth war hin- und hergerissen. Einerseits wollten ihre Blicke Dewary verfolgen, der langsam über den Vorplatz zu Lady Bakerfield hinüberging, andererseits konnte sie den Ligusterstrauch nicht aus den Augen lassen. Was ging dort vor sich? Was war dort im Sonnenlicht aufgeblitzt? War das Stahl? War das …?
„Dewary, pass auf! Da ist jemand im Liguster!“, rief sie aus Leibeskräften. Ihre zitternde Hand zeigte zur Hecke hinüber. Sie sah, wie Lord Bakerfield erbleichte und sich seine schmalen Lippen vor Anspannung zusammenpressten. Dann riss er seine Waffe herum und schoss. Laut durchbrach der Knall die sommerliche Stille.
Ein Mann, der im Gebüsch gestanden und sein Gewehr auf Dewary gerichtet hatte, sackte, von der Kugel tödlich getroffen, in sich zusammen. Er gab keinen Laut von sich, doch Lady Bakerfield schrie auf wie ein verletztes Tier. Der Schrei ging Elizabeth durch Mark und Bein. Ihr Mann fuhr herum. „Louise!“ Und die Lautstärke seiner Stimme stand der ihren um nichts nach.
„Lady Vivian!“ Dewary, der fast bei ihr angelangt war, wollte ihren Arm ergreifen, doch sie schüttelte ihn ab, als sei er ein lästiges Insekt. Dann schürzte sie ihre Röcke und eilte zur Hecke.
Dewary blickte ratlos zu Elizabeth empor. Wusste sie, was hier gespielt wurde? Doch diese stand nur bleich am Fenster, beide Hände ans Herz gepresst, und sagte kein Wort.
Inzwischen war Lady Bakerfield bei dem Toten angelangt. Sie sank in die Knie, um seinen Herzschlag zu spüren, sie nahm seine
Weitere Kostenlose Bücher