Das Geheimnis von Orcas Island
sich und piekste mit einem Finger in die Glasur. »Ich hätte ihr Freizeit gegeben.«
»Ich weiß.« Mae strich über Charitys Schulter. »Das ist das Problem mit dir. Du bist zu großzügig.«
»Ich hasse es, zum Narren gehalten zu werden.« Mit finsterer Miene nahm Charity einen großen Bissen Kuchen. Schokolade war ein besseres Heilmittel für ihre Kopfschmerzen als ein ganzes Röhrchen Tabletten, dessen war sie sicher. Ihre Schuldgefühle waren jedoch etwas ganz anderes. »Meinst du, dass sie einen anderen Job bekommt?«
»Typen wie Mary Alice landen immer auf den Füßen. Würde mich nicht überraschen, wenn sie mit Sack und Pack bei diesem Perkins-Jungen einzöge. Also, sorg dich nicht um sie. Habe ich dir nicht gesagt, dass sie keine sechs Monate bleibt?«
Charity schob sich mehr Kuchen in den Mund. »Du hast es mir gesagt«, murmelte sie.
»Und was ist jetzt mit diesem Mann, den du mitgebracht hast?«
Charity nahm einen Schluck Milch. »Ronald DeWinter.«
»Komischer Name.« Mae blickte sich in der Küche um, überrascht und ein bisschen enttäuscht, dass nichts mehr zu tun war. »Was weißt du von ihm?«
»Er brauchte einen Job.«
»Ich nehme an, es gibt einen ganzen Haufen Taschendiebe, Fassadenkletterer und Massenmörder, die einen Job brauchen.«
»Er ist kein Massenmörder«, erklärte Charity. Sie hielt es für besser, sich eines Urteils über die anderen Beschäftigungen zu enthalten.
»Vielleicht nicht, vielleicht doch.«
»Er ist ein Vagabund. Aber nicht ziellos, würde ich sagen. Er weiß, wohin er geht. Auf alle Fälle brauchte ich jemanden, da George auf und davon ist. Er leistet gute Arbeit.«
Das hatte Mae auf einem kurzen Gang zum Westflügel selbst herausgefunden. Aber sie hatte andere Dinge im Sinn. »Er guckt dich an.«
Charity strich mit einem Finger am Milchglas auf und ab. »Jeder hier guckt mich an.«
»Stell dich mir gegenüber nicht dumm, junge Dame. Ich habe dir den Popo gesäubert.«
»Was immer das mit irgendetwas zu tun hat«, antwortete Charity mit einem Grinsen. »Er guckt … also?« Sie zuckte die Schultern. »Ich gucke zurück.« Sie lächelte nur, als Mae die Brauen hochzog. »Sagst du mir nicht immer, dass ich einen Mann in meinem Leben brauche?«
»Es gibt solche und solche Männer«, entgegnete Mae weise. »Dieser sieht nicht schlecht aus, und er scheut keine Arbeit. Aber er hat eine harte Ader in sich. Der kennt sich aus, Mädchen, daran besteht kein Zweifel.«
»Jimmy Logerman wäre dir wohl lieber, wie?«
»Rückgratloser Wurm!«
Charity lachte und stützte das Kinn in die Hände. »Du hattest Recht, Mae. Ich fühle mich wirklich besser.«
Erfreut band Mae die Schürze von der üppigen Taille ab. Sie bezweifelte nicht, dass Charity ein vernünftiges Mädchen war, aber sie beabsichtigte, Ronald im Auge zu behalten. »Gut. Iss nicht noch mehr Kuchen, sonst bleibst du die ganze Nacht mit Bauchschmerzen auf.«
»Ja, Ma’am.«
»Und hinterlass keine Unordnung in meiner Küche«, fügte Mae hinzu, während sie sich einen schlichten braunen Mantel anzog.
»Nein, Ma’am. Gute Nacht, Mae.«
Charity seufzte, als die Haustür ins Schloss fiel. Maes Weggang signalisierte gewöhnlich das Ende des Tages. Sofern kein Notfall eintrat, gab es bis zum Sonnenaufgang nichts mehr zu tun.
Seit kurzem spielte Charity mit dem Gedanken, eine Sauna mit Solarium einbauen zu lassen. Das könnte einen Teil der erholungssuchenden Gäste anlocken. Sie hatte einige Preise eingeholt und sah im Geiste bereits den Sonnenraum an der Südseite des Gasthauses vor sich. Im Winter könnten die Gäste sich dort aufwärmen, wenn sie von ihren Wanderungen zurückkehrten.
Sie selbst würde es auch genießen, vor allem an jenen seltenen Wintertagen, wenn das Gasthaus leer war und es nichts zu tun gab.
Außerdem hegte sie den Langzeitplan, einen Geschenkartikelladen zu eröffnen, und zwar mit Waren einheimischer Künstler. Sie fragte sich, ob Ronald lange genug bleiben würde, um daran zu arbeiten.
Es war nicht klug, an ihn in Verbindung mit irgendwelchen ihrer Pläne zu denken. Wahrscheinlich war es nicht klug, überhaupt an ihn zu denken. Er war, wie sie selbst gesagt hatte, ein Vagabund. Männer wie er ließen sich nicht lange an einem Ort nieder.
Sie konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Beinahe vom ersten Moment an hatte er Gefühle in ihr geweckt. Er war ein attraktiver Mann, auf eine harte, gefährliche Art. Aber da war mehr. Etwas in seinen Augen? In seiner Stimme? In
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