Das Geheimnis von Orcas Island
tun.«
»So viel, dass ich schnellstens eine neue Kellnerin anstellen muss. Ich hatte gar keine Gelegenheit, Ihnen für Ihre Hilfe mit den Dinnergästen zu danken.«
»Kein Problem. Sind die Kopfschmerzen weg?«
»Ja, danke. Der Ärger über Sie hat mich von Mary Alice abgelenkt, und Maes Schokoladenkuchen hat den Rest besorgt. Wie war Ihr Tag?«
Sie lächelte ihn an, in einem ungezwungenen Angebot von Freundschaft, das er als schwer zu widerstehen und unmöglich zu akzeptieren empfand. »Ganz gut. Miss Millie hat gesagt, dass ihre Zimmertür klemmt. Also habe ich so getan, als hätte ich sie abgeschmirgelt.«
»Und ihr damit eine unheimliche Freude gemacht.«
Er konnte ein Lächeln nicht verhindern. »Ich glaube nicht, dass ich jemals so beliebäugelt wurde.«
»Oh, ich glaube schon.« Charity neigte den Kopf, um ihn aus einem neuen Winkel zu mustern. »Aber, mit Entschuldigung an Ihr Ego, in Miss Millies Fall handelt es sich eher um Kurzsichtigkeit als Begierde. Sie ist zu eitel, um vor irgendeinem Mann über zwanzig eine Brille zu tragen.«
»Mir ist es lieber, außerdem glaube ich doch, dass sie mich lüstern ansieht. Sie hat mir erzählt, dass sie seit 1952 zweimal im Jahr herkommt.« Er dachte einen Moment darüber nach, und es verwunderte ihn, dass jemand immer und immer wieder an denselben Ort zurückkehren konnte.
»Sie und Miss Lucy gehören schon fast zum Inventar. Als Kind dachte ich, wir wären verwandt.«
»Führen Sie das Geschäft schon lange?«
»Mit Unterbrechungen meine ganzen siebenundzwanzig Jahre lang.« Lächelnd neigte sie den Stuhl zurück. Sie entspannte sich mühelos und genoss es, andere entspannt zu sehen. Er wirkte nun ebenso, mit den Beinen unter dem Tisch ausgestreckt und einem Glas in der Hand. »Sie wollen doch wohl nicht meine Lebensgeschichte hören, oder, Ronald?«
Er blies eine Rauchwolke aus. »Ich habe nichts anderes zu tun.« Und er wollte ihre Version dessen hören, was er in ihrer Akte gelesen hatte.
»Also gut. Ich wurde hier geboren. Meine Mutter verliebte sich ein bisschen später im Leben als die meisten. Sie war fast vierzig, als sie mich bekam, und zerbrechlich. Es gab Komplikationen. Nach ihrem Tod zog mein Großvater mich auf. Daher bin ich hier im Gasthaus aufgewachsen, abgesehen von der Zeit, die er mich fort zur Schule schickte. Ich liebte diesen Ort.«
Sie blickte sich in der Küche um. »In der Schule verzehrte ich mich nach dem allen hier – und nach Pop. Selbst im College vermisste ich es so sehr, dass ich jedes Wochenende mit der Fähre nach Hause kam. Aber er wollte, dass ich andere Orte sehe, bevor ich mich hier niederlasse. Ich sollte reisen, neue Ideen für das Gasthaus bekommen. New York sehen, New Orleans, Venedig. Ich weiß nicht …« Ihre Stimme verklang.
»Warum haben Sie es nicht getan?«
»Mein Großvater war krank. Ich war in meinem letzten College-Jahr, als ich herausfand, wie krank er war. Ich wollte abbrechen, nach Hause kommen, aber dieses Verhalten hat ihn so aufgeregt, dass ich es für besser hielt, den Abschluss zu machen. Er hielt noch drei Jahre durch, aber es war … schwierig.« Sie wollte nicht über die Tränen und die Ängste reden oder über die Belastung, das Gasthaus zu leiten und gleichzeitig einen Fast-Invaliden zu versorgen. »Er war der tapferste, netteste Mann, den ich je gekannt habe. Er war so sehr ein Teil von hier, dass ich manchmal immer noch erwarte, ein Zimmer zu betreten und ihn zu sehen, wie er die Möbel auf Staub inspiziert.«
Ronald schwieg einen Moment, dachte ebenso an das, was sie ausgelassen hatte, wie an das, was sie erzählt hatte. Er wusste, dass ihr Vater als unbekannt galt – überall ein schwieriges Hindernis, aber besonders in einer Kleinstadt. In den letzten sechs Lebensmonaten ihres Großvaters hatten seine Arztkosten das Gasthaus fast ruiniert. Aber über jene Dinge sprach sie nicht, und er konnte auch keinerlei Anzeichen von Bitterkeit entdecken. »Haben Sie je daran gedacht, das Gasthaus zu verkaufen und weiterzuziehen?«
»Nein. Oh, ich denke manchmal schon noch an Venedig. Es gibt Dutzende von Orten, die ich besuchen möchte. Solange ich das Gasthaus habe, um hierher zurückzukehren.« Sie stand auf, um ihm noch ein Bier zu holen. »Wenn man einen Betrieb wie diesen führt, lernt man Leute von überall kennen. Und man hört immer irgendwelche Geschichten über andere Orte.«
»Reisen aus zweiter Hand?«
Die Bemerkung traf sie, weil sie ihren eigenen Gedanken zu nahe kam.
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