Das Geheimnis von Orcas Island
leid, ganz nach seinen Launen herumgestoßen zu werden. »Auf diese Weise entgeht Ihnen viel, Ronald, oder? Viel Wärme, viel Vergnügen.«
»Viele Enttäuschungen.«
»Vielleicht. Für einige von uns ist es wohl schwerer, abseits von anderen zu leben. Aber wenn Sie es so wollen, prima.« Sie holte tief Luft. Ihre Kopfschmerzen kamen zurück, doppelt stark. »Fassen Sie mich nicht wieder an. Ich bin es gewöhnt zu beenden, was ich beginne.« Sie blickte in den Raum hinter ihnen. »Sie leisten gute Arbeit hier«, sagte sie kurz angebunden. »Ich lasse Sie jetzt damit weitermachen.«
Er verfluchte sie, während er den Fensterrahmen abschmirgelte. Sie hatte kein Recht, Schuldgefühle in ihm zu wecken, nur weil er auf Distanz blieb. Es war nicht nur eine Angewohnheit für ihn, es war eine Frage des Überlebens. Es war hemmungslos und gefährlich, sich jeder Frau zu nähern, die anziehend wirkte.
Doch es war mehr als nur Anziehungskraft, und es war eindeutig anders als alles, was er je zuvor gefühlt hatte. Wann immer er ihr nahe war, wurde seine Zielstrebigkeit von Fantasien darüber getrübt, wie es sein mochte, mit ihr zusammen zu sein, sie zu halten, sie zu lieben.
Und mehr als Fantasien sind es nicht, erinnerte Ronald sich. Wenn alles gut ging, würde er in wenigen Tagen wieder fort sein – und möglicherweise ihr Leben zerstört haben. Es ist mein Job, rief er sich ins Gedächtnis.
Er sah sie an, als sie mit diesen langen energischen Schritten zum Lieferwagen ging. Ihr folgten die Frischvermählten, Hand in Hand, obwohl jeder einen Koffer trug.
Charity wird sie zur Fähre bringen, dachte er. Somit hatte er eine Stunde Zeit, um ihre Räume zu durchsuchen.
Ronald wusste jeden Zentimeter eines Zimmers durchzusehen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Er konzentrierte sich zuerst auf das Naheliegende – den Schreibtisch in dem kleinen Salon. Für die meisten Leute war es üblich, unachtsam in der Privatsphäre ihres eigenen Heims zu sein. Ein Stück Papier, eine dahingekritzelte Notiz, ein Name in einem Adressenbuch wurden oft zurückgelassen und von einem geschulten Auge entdeckt.
Es war ein alter Schreibtisch, aus massivem Mahagoni mit einigen Kratzern und Flecken. Zwei der Messinggriffe waren lose. Wie der Rest des Zimmers war er sauber und aufgeräumt. Ihre persönlichen Papiere – Versicherungspolicen, Rechnungen, Korrespondenz – befanden sich links. Die Geschäftsunterlagen beanspruchten die drei rechten Schubladen.
Einer raschen Durchsicht entnahm er, dass der Gasthof einen recht anständigen Profit abwarf, den sie zum größten Teil gleich wieder in das Unternehmen steckte. Neue Bettwäsche. Badezimmerarmaturen, Farbe. Der Herd, den Mae so eifrig hütete, war erst sechs Monate zuvor angeschafft worden.
Sie nahm sich ein Gehalt – ein überraschend bescheidenes. Selbst nach einer kritischen Prüfung fand er keinerlei Anhaltspunkte, dass sie die Finanzen des Gasthauses benutzte, um sich das Leben zu erleichtern.
Eine ehrliche Frau, stellte Ronald fest. Zumindest oberflächlich betrachtet.
Ein gerahmtes Foto stand auf dem Schreibtisch. Es zeigte Charity vor der Windmühle, mit einem zerbrechlich aussehenden, weißhaarigen Mann.
Der Großvater, entschied Ronald, doch es war Charitys Bild, das er näher betrachtete. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgekämmt, und ihr unförmiger Overall war fleckig an den Knien. Von Gartenarbeit, vermutete er. Sie hielt einen Arm voll Sommerblumen. Sie sah aus, als hätte sie keine einzige Sorge auf der Welt, aber ihr anderer Arm stützte den alten Mann.
Er fragte sich, was sie wohl gedacht haben mochte in dem Moment, als das Foto aufgenommen wurde, und was sie danach wohl getan hatte. Er fluchte über sich selbst und wandte den Blick vom Foto ab.
Sie machte sich Notizen für sich selbst: Tapetenmuster zurückbringen. Bauklötze für Spielzeugkiste. Klavierstimmer anrufen. Platten flicken lassen.
Er fand nichts, was den Grund seines Aufenthalts im Gasthaus berührte. Er wandte sich vom Schreibtisch ab und durchsuchte gründlich den Rest des Salons.
Dann ging er in das angrenzende Schlafzimmer. Das Bett war mit einer weißen Spitzendecke und zahlreichen kleinen Kissen bedeckt. Daneben stand ein herrlicher alter Schaukelstuhl mit glatt gewetzten Armlehnen. Darin saß ein großer rosa Teddybär.
Die Gardinen waren romantisch gerüscht. Das Fenster stand offen, und die Brise wehte herein und blähte sie. Das Zimmer einer Frau, dachte Ronald, durch und durch
Weitere Kostenlose Bücher