Das Geheimnis von Orcas Island
gelegentlich, wenn es im Gasthof besonders hektisch zugegangen war, den Luxus ersehnt hatte, einen müßigen Tag im Bett verbringen zu können. Nun konnte sie es, und sie hasste es.
Die Tablette, die Ronald sie zu schlucken gezwungen hatte, hatte sie schläfrig gemacht. Sie schlummerte immer wieder ein, um später zu erwachen und sich zu ärgern, dass sie nicht genug Beherrschung besaß, um wach zu bleiben und sich zu langweilen.
Er hat mich versprechen lassen, im Bett zu bleiben, dachte Charity und klopfte ungehalten auf das Kissen, und er hat nicht einmal genug Anstand, um mir fünf Minuten lang Gesellschaft zu leisten. Es lag nicht in ihrer Natur, untätig zu sein, und wenn sie es noch fünf Minuten länger sein musste, würde sie schreien.
Sie lächelte ein wenig bei dieser Vorstellung. Was würde er tun, wenn sie einen Grauen erregenden Schrei ausstieße? Es konnte interessant sein, das herauszufinden. Sie nickte und holte tief Luft.
»Was tust du da?«
Sie atmete langsam wieder aus, als Ronald eintrat. Freude stieg in ihr auf, aber sie verbarg sie schnell hinter Groll. »Das fragst du mich ständig.«
»Wirklich?« Er brachte wieder ein Tablett, mit Maes köstlicher Hühnersuppe und selbst gebackenen Brötchen. »Also, was hast du getan?«
»Mich zu Tode gelangweilt. Ich glaube, ich würde lieber erschossen werden.« Sie beschloss, ein wenig freundlicher zu sein. Nicht aus Freude, ihn zu sehen, sagte sie sich, sondern weil es inzwischen dämmerte und sie seit Stunden nichts gegessen hatte. »Ist das für mich?«
»Wahrscheinlich.« Ronald stellte das Tablett auf ihren Schoß, blieb in ihrer Nähe stehen und betrachtete sie lange und gründlich. Er konnte den Zorn nicht beschreiben, den er beim Anblick der Prellungen und Bandagen verspürte. Ebenso wenig, wie er die Freude und Erleichterung beschreiben konnte, die er verspürte, als er die Verärgerung in ihrem Blick und die Farbe auf ihren Wangen sah. »Ich glaube, du irrst dich, Charity. Du wirst überleben.«
»Was ich nicht dir zu verdanken habe.« Sie machte sich über die Suppe her. »Erst entlockst du mir ein Versprechen, und dann lässt du mich zwölf Stunden lang verrotten. Du hättest ruhig mal für eine Minute heraufkommen können, um nachzusehen, ob ich nicht im Koma liege.«
Er war heraufgekommen, aber sie hatte geschlafen. Dennoch war er fast eine halbe Stunde geblieben und hatte sie nur angesehen. »Ich war ein bisschen beschäftigt«, sagte er und brach sich ein halbes Brötchen ab.
»Darauf wette ich.« Charity entriss ihm das Brötchen wieder. »Da du gerade hier bist, könntest du mir sagen, wie es unten läuft.«
»Alles unter Kontrolle«, murmelte er und dachte an Bob und die Telefonate, die er selbst bereits geführt hatte.
»Es ist erst Bonnies zweiter Tag. Sie hat nicht …«
»Sie kommt gut zurecht«, warf er ein. »Mae bewacht sie wie ein Adler. Wo kommen die alle her?« Er deutete auf das halbe Dutzend Vasen mit frischen Blumen.
»Die Gänseblümchen hat Lori gebracht. Dann sind die Ladys mit den Veilchen gekommen. Sie hätten eigentlich nicht all die Treppen steigen sollen.« Sie rasselte weitere Namen von Leuten herunter, die ihr Blumen gebracht oder geschickt hatten.
Ich hätte ihr welche bringen sollen, dachte Ronald. Er stand auf und steckte die Hände in die Hosentaschen. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Solche Dinge fielen ihm nicht ein. Nicht die kleinen, romantischen Dinge, die einer Frau wie Charity zustanden.
»Ronald?«
»Was?«
»Bist du den ganzen Weg heraufgekommen, nur um die Pfingstrosen anzustarren?«
»Nein.« Er hatte nicht einmal deren Namen gewusst. Er wandte sich von den dicken rosa Blüten ab. »Willst du noch etwas essen?«
»Nein.« Sie klopfte mit dem Löffel an die leere Schale. »Ich will nicht mehr essen, ich will keine Zeitschriften mehr, und ich will nicht, dass sonst noch jemand kommt und mir die Hand tätschelt und mir sagt, dass ich viel Ruhe brauche. Wenn du das im Sinn hattest, kannst du gleich wieder gehen.«
»Du bist eine charmante Patientin, Charity.« Er beherrschte sich eisern und nahm das Tablett fort.
»Nein, ich bin eine miserable Patientin.« Wütend gab sie ihre Selbstbeherrschung auf, und genauso wütend warf sie ihm ein Taschenbuch an den Kopf. Zum Glück verfehlte sie ihr Ziel. »Und ich bin es leid, hier eingesperrt zu sein, so als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Ich habe eine Beule am Kopf, keinen Gehirntumor.«
»Ich glaube nicht, dass ein
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