Das Geheimnis von Sittaford
nichts?»
«Nun, möglicherweise wird man Sie bis zur ersten Verhandlung in Haft behalten, Mr Pearson.»
«Barmherziger Himmel!» ächzte James. «Kann mir denn niemand helfen?»
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine junge Dame trat ins Zimmer… eine junge Dame, deren fesselndes, ungemein lebendiges Gesicht niemand, der es einmal gesehen hatte, vergessen konnte. Ihre ganze Erscheinung umgab eine Aura von gesundem Menschenverstand, unbeirrbarer Entschlossenheit und Selbstsicherheit.
«James, was ist denn los?», rief sie.
«Es ist alles vorbei, Emily», sagte der junge Mann, «sie denken, ich hätte meinen Onkel ermordet.»
«Wer denkt das?»
James Pearson wies mit einer müden Handbewegung auf seinen Besucher.
«Inspektor Narracott», und mit einem traurigen Versuch, die gesellschaftlichen Formen zu wahren, fügte er hinzu: «Miss Emily Trefusis.»
Die Dame musterte den Kriminalbeamten mit unerschrockenen haselnussbraunen Augen.
«Jim ist ein dummer Hasenfuß», bemerkte sie dann. «Aber er ermordet seine Mitmenschen nicht.»
Der Inspektor schwieg.
«Ich vermute», wandte sie sich gleichmütig an James, «dass du schrecklich unüberlegte Dinge gesagt hast. Wenn du die Zeitungen ein bisschen genauer lesen würdest, als es deine Gewohnheit ist, würdest du wissen, dass man mit jemandem von der Polizei nur spricht, wenn ein gewiefter Anwalt dabeisitzt. Was ist eigentlich geschehen? Wollen Sie ihn abführen, Inspektor?»
Narracott erklärte ihr ruhig den Sachverhalt und zu welchen Schritten dieser ihn nötige.
«Emily, du glaubst doch nicht, dass ich es getan habe?», rief James Pearson verzweifelt. «Du wirst es niemals glauben, nicht wahr?»
«Gewiss nicht, mein Lieber», sagte Emily freundlich. «Du bist zum Raubmörder nicht geschaffen», setzte sie sinnend hinzu, nachdem sie den völlig Gebrochenen ein Weilchen betrachtet hatte.
«Ach Gott, ich habe das Gefühl, als hätte ich nicht einen Freund auf der Welt!»
«Was soll der Unsinn! Hast du nicht mich? Kopf hoch, James! Sieh doch den Ring an meiner linken Hand. Hier, James, steht deine treue Braut. Folge dem Inspektor und überlass alles Weitere in Gottes Namen mir!»
Gehorsam erhob James Pearson sich. Sein Mantel lag über einer Stuhllehne, und auf dem Schreibtisch lag ein Hut. Inspektor Narracott reichte ihm beides, half ihm sogar in den Mantel, und als sie zur Tür gingen, sagte er verbindlich:
«Guten Abend, Miss Trefusis.»
«Au revoir, Inspektor», flötete Emily.
Und wenn er Miss Emily Trefusis besser gekannt hätte, würde er gewusst haben, dass in diesen drei Worten eine Herausforderung lag.
11
D ie gerichtliche Leichenschau fand Montagmorgen statt, und wer von den vielen Neugierigen auf eine Sensation gehofft hatte, erlebte insofern eine Enttäuschung, als der Vorsitzende beinahe sofort die Vertagung der Verhandlung um eine Woche verkündete.
In der Zeit von Sonnabend bis Montag erlangte der stille Ort Exhampton eine gewisse Berühmtheit. Die Kunde, dass der Neffe des Ermordeten von der Polizei in Haft genommen worden war, rückte die Angelegenheit auf die erste Seite der Zeitungen. Am Montag weilten bereits Scharen von Reportern in Exhampton, und Charles Enderby beglückwünschte sich noch einmal zu seiner bevorzugten Stellung, die er einzig und allein dem Fußballpreisausschreiben verdankte.
Es war seine unumstößliche Absicht, sich an Major Burnaby wie ein Blutegel festzusaugen und unter dem Vorwand, den Bungalow Nr. 1 fotografieren zu müssen, Auskünfte über die Bewohner Sittafords und ihre Beziehungen zu dem Ermordeten zu erhalten, wie sie keiner seiner Kollegen erlangen würde.
Mr Enderbys scharfsichtigem Auge entging nicht, dass während des Lunchs ein kleiner Tisch unweit der Tür von einer sehr anziehenden jungen Dame besetzt war. Was suchte sie hier in Exhampton…? Attraktiv und in einer etwas strengen, nicht alltäglichen Art gekleidet, gehörte sie offenbar weder zur Verwandtschaft des Toten, noch zu den Scharen neugieriger Müßiggänger.
«Wie lange sie wohl in diesem Nest bleiben wird?», grübelte Mr Enderby. «Schade, dass ich heute Nachmittag nach Sittaford fahre! Wirklich Pech! Aber man kann eben nicht alles haben!»
Doch kurz nach dem Essen wurde ihm eine angenehme Überraschung zuteil. Als er von der Steintreppe der «Three Crowns» aus den schnell schmelzenden Schnee beobachtete und die trägen Strahlen der winterlichen Sonne genoss, sprach ihn eine Stimme von bezauberndem
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