Das Geheimnis von Sittaford
genügt. Was hat dieser Evans für Vorteile durch den Tod seines Herrn?»
«Ein kleines Legat, soviel ich gehört habe», berichtete Emily.
«Ein kleines Legat nur? Hm… Dann ist uns die Aufgabe gestellt herauszufinden, ob er sich in Geldverlegenheit befand. Auch Mrs Evans dürfen wir nicht übergehen. Wenn Sie Kriminologie studiert hätten, Miss Trefusis, würden Ihnen die seltsamen Folgeerscheinungen der Inzucht, besonders in den ländlichen Distrikten, bekannt sein. In Broadmoor zum Beispiel gibt es wenigstens vier junge Frauen, nett und bescheiden sonst, die jedoch ein Menschenleben für nichts achten. Nein, die junge Mrs Evans dürfen wir nicht ausscheiden.»
«Was halten Sie von diesem Tischrücken, Mr Rycroft?»
«Ich gestehe offen, Miss Trefusis, dass es einen gewaltigen Eindruck auf mich gemacht hat. Bis zu einem gewissen Grad bin ich ein Verfechter des Spiritismus und habe bereits eine genaue Schilderung des Vorfalls an die Society for Psychical Research geschickt. Denn er verdient stärkste Beachtung. Stellen Sie sich vor – fünf Personen sind anwesend, von denen nicht eine die leiseste Ahnung haben konnte, dass Captain Trevelyan ermordet worden war.»
«Sie meinen also nicht…»
Verwirrt brach Emily ab. Es war nicht so leicht, Mr Rycroft, der selbst zu den Gästen Mrs Willetts gehört hatte, ihre Vermutungen anzudeuten, dass unter den fünf sich ein Mitwisser des Mörders befunden habe. Und um nicht taktlos zu erscheinen, versuchte sie, auf Umwegen zum eigentlichen Kern der Sache zu kommen.
«Auch mich interessiert dieser Vorfall außerordentlich, Mr Rycroft, denn ich habe noch nie etwas derartig Erstaunliches gehört. Glauben Sie nicht, dass einer der Anwesenden mediale Fähigkeiten besitzt?»
«Mein liebes Fräulein, ich selbst besitze sie jedenfalls nicht. Meine Rolle beschränkt sich auf die eines wissbegierigen Beobachters.»
«Mr Garfield?»
«Ein liebenswürdiger Junge, doch platter Durchschnitt.»
«Vermögend?»
«Völlig abgebrannt, glaube ich. Er verirrte sich nach hier um einer Tante willen, von der er sich etwas verspricht. Miss Percehouse, die eine kluge Frau ist, wird ihn längst durchschaut haben, lässt ihn jedoch mit einem gewissen sardonischen Humor weiter um sich herumtanzen.»
«Ich möchte sie gern kennen lernen.»
«Sie wird denselben Wunsch hegen», gab Mr Rycroft seiner Vermutung Ausdruck. «Neugier, Miss Trefusis, Neugier.»
«Erzählen Sie mir ein wenig von den Willetts.»
«Reizende Menschen, freilich mit einem kolonialen Anstrich. Keine wirkliche Ausgeglichenheit, verstehen Sie. Ein wenig zu verschwenderisch, alles eine Spur zu aufwendig. Miss Violet ist ein entzückendes Mädchen.»
«Und was halten Sie von dieser Schrulle, sich im Winter in Sittaford einzumieten?»
«Gott, sie entbehrt nicht ganz der Logik. Wir Menschen des rauhen Nordens sehnen uns nach Sonnenschein, heißem Klima, schlanken Palmen, während Leute, die in Australien oder Südafrika leben, sich für ein altmodisches Weihnachten mit Schnee begeistern.»
Welche von den beiden Willetts ihm das wohl eingeredet hat? schoss es Emily durch den Sinn. Um sich ein Weihnachten mit Schnee und Eis zu verschaffen, brauchte man sich nicht in einem gottverlassenen Heidedorf zu vergraben. Gewiss, Mr Rycroft kam diese Wahl nicht verdächtig vor, weil für ihn, den Ornithologen und Kriminologen, Sittaford ein idealer Wohnsitz war.
Inzwischen hügelabwärts gestiegen, folgten sie jetzt den vielfachen Windungen des Feldweges.
«Wer wohnt in diesem Cottage?», fragte Emily ganz unvermittelt.
«Captain Wyatt, Kriegsinvalide und ein recht ungeselliger Kauz.»
«War er mit Captain Trevelyan befreundet?»
«Befreundet nicht. Trevelyan stattete ihm hin und wieder einen Höflichkeitsbesuch ab; doch Wyatts Wesen ist nicht dazu angetan, seine Besucher zu baldiger Wiederkehr zu ermutigen. Ein stachliger Igel!»
Miss Trefusis schritt schweigend neben ihrem Begleiter her. Wie sollte sie es anfangen, in dieses Igelnest einzudringen? Kein Cottage und kein Bewohner Sittafords durfte unerforscht bleiben! Und plötzlich fiel ihr ein anderer Einwohner und Teilnehmer an jener spiritistischen Sitzung ein.
«Was ist mit Mr Duke los?»
«Ja, das weiß niemand so recht», musste Mr Rycroft eingestehen. «Und dabei macht er keinerlei rätselhaften Eindruck. Das einzige Rätsel an ihm wäre vielleicht seine soziale Herkunft. Nicht… nicht ganz – nun, Sie sind klug genug, um mich zu verstehen, Miss Trefusis.
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