Das Geheimnis von Summerstone - Die furchtlosen Vier
Familie mit seinen Wänden voller Bücher und Bilder, öffnete sein Büchlein »Tot oder lebendig« und begann bei seiner ältesten Schwester Nancy. Zuletzt hatte er sie mit nur einer Wollweste über dem Kleid aus der Haustür stürmen sehen. Theo fürchtete, sie könnte sich erkälten, wodurch ihr Immunsystem so geschwächt würde, dass sie Gehirnhautentzündung bekommen und die ganze Familie anstecken könnte. Er hatte ihr umsichtig geraten, eine Jacke, einen Mundschutz und ein bakterientötendes Reinigungstuch für die Hände mitzunehmen, aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Während er ihre Nummer wählte, schüttelte er den Kopf und dachte darüber nach, wie oft seine Geschwister seine Warnungen völlig in den Wind schlugen.
»Nancy, hier ist dein Bruder …«, er hielt inne und wartete auf eine freudige Begrüßung. »Aber da du vier Brüder hast, sollte ich mich vielleicht mit Namen melden. Ich bin’s, Theo.«
»Das war mir schon klar, Theo, verlass dich drauf«, sagte Nancy, offenkundig verärgert.
»Schön, das zu hören«, antwortete er mit einem
selbstvergessenen Lächeln. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass du in Sicherheit bist und dass es dir gut geht. Und ich möchte dir nahelegen, noch einmal nach Hause zu kommen und einen warmen Mantel, einen Mundschutz und ein Reinigungstuch für die Hände zu holen.«
»Ruf mich nicht dauernd an: Ich hab gerade eine Verabredung!«, schäumte Nancy.
»Ich nehme das als Bestätigung dafür, dass du am Leben bist und dass es dir gut geht. Und sorge dafür, dass der Junge sich die Hände wäscht, ehe er mit dir Händchen hält - um diese Jahreszeit wimmelt es von Bazillen. Okay, viel Spaß. Ich rufe dich in einer Stunde wieder an.«
»Untersteh dich!«, schrie Nancy in den Hörer, aber Theo hatte bereits aufgelegt.
Nicht einmal das strenge Handyverbot in der Schule hielt Theo davon ab, seine Familie zu kontrollieren. Er tüftelte ein System aus, nach dem ihm jedes Familienmitglied während der Schulstunden eine Bestätigung seines Befindens schicken und erklären musste, ob es tot oder lebendig war. Das war im Grunde kein wirklich logisches System, weil ein Toter sich ja nicht mehr melden kann. Folglich schrieben Joaquin und seine anderen beiden Brüder oft zum Spaß eine SMS mit »tot«.
Theo lachte nie. Trotz seines ausgeklügelten und zeitraubenden Systems plagten ihn weiterhin Gedanken
an den Tod. Seine Geschwister begannen, ihn »Theo, den Thanatophoben« zu nennen - Thanatophobie ist die Angst vor dem Tod oder vor dem Sterben.
Theo fand sein Verhalten als durchaus gerechtfertigt. Er brauchte bloß die Zeitungsberichte darüber zu lesen, wie viele Menschen durch Autounfälle, Krankheiten, Verbrechen und sonstige unglaubliche Ereignisse zu Tode kamen.
Theos neurotische Ängste erreichten einen Höhepunkt, als seine Eltern im Yosemite-Nationalpark in Nordkalifornien Campingurlaub machten. Zwischen den uralten Gletschern und den riesengroßen Redwoodbäumen gab es ein komplettes Funkloch, sodass sie Theo nicht anrufen konnten. Theo drehte fast durch. Seine Fantasie ging mit ihm durch und er stellte sich vor, wie Grizzlybären gerade seine geliebten Eltern verschlangen. Ohne es mit seinen Geschwistern abzusprechen, wollte er sein Möglichstes tun, um seine Mum und seinen Dad zu beschützen. Wenn seine Eltern ihn nicht erreichen konnten, musste er eben sie erreichen und jede dafür erforderliche Maßnahme ergreifen. Daher gingen bei den Rangern des Nationalparks abwechselnd Meldungen ein, seine Eltern seien verletzt, überfallen worden, vom Feuer eingeschlossen oder hätten sich verirrt.
»Ich sagte ›verirrt‹! Was ist daran nicht zu verstehen? Meine Eltern haben mich gebeten, Hilfe zu holen!«, kreischte Theo.
»Wenn sie kein Handy haben, wie haben sie dir dann mitgeteilt, dass sie sich verirrt haben?«, fragte der Ranger listig.
»Ich habe die Gabe …«
»Blödsinn zu reden«, ergänzte der Ranger.
»Der übersinnlichen Wahrnehmung. Im Herbst gibt es eine Sendung über mich im Radio«, log Theo. »Bitte, Sie müssen sie finden!«
»Hör mal, Junge, gestern habe ich acht Stunden wegen dieses Feuermärchens verschwendet. Ich falle nicht noch mal auf dich herein.«
Als die Ranger drohten, rechtliche Schritte gegen Theo einzuleiten, erkannten die Bartholomews, dass es Zeit war, professionelle Hilfe zu suchen. Da Theos Eltern beide Theologieprofessoren an der Columbia-Universität waren, beschlossen sie, als ersten Schritt andere
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