Das Geheimnis von Winterset
habe ich mich auch schon gefragt", gestand Reed und schnitt eine weitere Scheibe Braten ab, die er auf seinen Teller legte. „Die Morde könnten von einem Täter nachgeahmt werden, der keine ersichtliche Verbindung zu den früheren Ereignissen hat. Trotzdem sollten wir weiter in der Vergangenheit forschen. Vielleicht finden wir doch noch etwas, das uns einen Hinweis geben könnte."
„Ja, ich weiß. Ich wollte auch nicht andeuten, dass wir aufgeben sollten", sagte Anna rasch. „Aber ich wünschte, wir könnten einfach mehr darüber herausfinden, was mit Estelle oder diesem Jungen geschehen ist."
Daraufhin sah Reed sie so nachdenklich an, dass Anna fragend die Augenbrauen in die Höhe zog.
„Was ist?", wollte sie wissen. „Sie denken an etwas Bestimmtes."
Er schmunzelte ein wenig. „Da haben Sie recht."
„Und Sie glauben, dass es mir nicht gefallen wird", riet sie weiter.
„Da könnten Sie auch recht haben." Er lächelte jetzt, und Anna spürte sofort, wie sie dahinschmolz. Wenn Reed nur wüsste, dass er mit diesem Lächeln fast alles von ihr bekommen könnte ... „Ich habe an Ihre ,Gabe' gedacht."
„Meine Gabe?" Anna blickte ihn verdutzt an.
„Ihre Fähigkeit, zu ... zu erspüren, was geschehen ist. Oder was noch geschehen wird. So wie bei dem nächtlichen Überfall auf Ihren Bruder oder als Sie den jungen Johnson fanden."
„Oh." Anna legte ihre Gabel beiseite, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete Reed argwöhnisch. Noch wusste sie nicht genau, was er vorhatte, aber es gefiel ihr nicht, dass er auf ihre Visionen zu sprechen kam. Sie hatte Angst, dass er - ebenso wie sie selbst es oft tat - ihre seltsamen Anwandlungen als Zeichen dafür sah, dass sie ebenfalls langsam dem Wahnsinn verfiel. „Weshalb haben Sie jetzt an meine ,Gabe' gedacht?"
„Weil ich es schön fände, wenn wir sie uns zunutze machen könnten."
Damit hatte sie nicht gerechnet. „Uns zunutze machen?", fragte sie ungläubig. „Aber wie denn?" Gespannt lehnte sie sich ein wenig vor.
„Um mehr über die Morde zu erfahren. Ich verstehe zwar nicht genau, was in Ihnen vorgeht, wenn Sie eine solche Vision haben, im Falle Ihres Bruders war Ihre Vorahnung indes von bemerkenswerter Genauigkeit, finden Sie nicht auch?"
Anna nickte. „Ja, das stimmt allerdings."
„Sie haben den Ort gesehen, an dem es geschah, und Sie haben auch etwas von dem Schmerz empfunden, den Ihr Bruder verspürt hat. Ich wünschte, Sie könnten Ihre Fähigkeit ganz auf die Morde konzentrieren. Vielleicht bekämen Sie eine Ahnung davon, wer sie verübt haben könnte oder wie es geschah."
Anna lehnte sich wieder in ihren Stuhl zurück. „Ich ... ich weiß nicht."
„Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht bedrängen", beeilte er sich zu sagen und legte seine Hand auf die ihre. „Wenn Sie nicht möchten, will ich auch nicht, dass Sie es tun. Wenn Sie sich dabei unwohl fühlen oder ..." Er brach ab.
Anna spürte die Wärme seiner Berührung, die einen wohligen Schauder ihren Arm hinauf direkt in ihr Innerstes sandte. Sie setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht und entzog Reed ihre Hand, die sie rasch mit der anderen auf dem Schoß verschränkte.
„Es ist nicht so, dass ich es nicht tun wollte", begann sie, „aber ... ich weiß nicht, wie ich es tun sollte. Die Visionen oder Empfindungen, oder wie immer Sie es nennen wollen, kamen bislang stets über mich - ich tue nichts, um sie bewusst herbeizuführen, und bin jedes Mal selbst völlig überrascht. Es tut mir leid, aber ich wüsste wirklich nicht, wie ich das Einsetzen einer solchen Vision auslösen sollte."
Reed nickte und zog ebenfalls seine Hand zurück. Schweigend begann er zu essen.
„Vielleicht könnte ich versuchen, an Estelle zu denken", meinte Anna nachdenklich. Der bloße Gedanke daran, ihre Vorstellungskraft dem furchtbaren Mord zu öffnen, ließ sie erschaudern.
Reed sah auf und bemerkte, dass sie ganz bleich geworden war. „Nein", sagte er entschieden. „Das ist es nicht wert. Ich habe nicht bedacht ... nein, die Auswirkungen auf Sie wären zu fürchterlich. Es war eine unsinnige Idee von mir."
Seine Besorgnis ließ Anna ganz warm ums Herz werden, genauso wie sie auch davon berührt gewesen war, wie er von ihren Visionen gesprochen hatte - so, als seien sie etwas ganz Normales und Natürliches, tatsächlich eher eine Gabe als etwas, das es zu verstecken und zu verdrängen galt.
„Nein, es war keineswegs unsinnig, daran zu denken. Wenn wir auf diesem Wege dem Mörder auf die
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