Das Geheimnis von Winterset
Spur kommen könnten, würde ich das Unbehagen gern auf mich nehmen."
„Unbehagen dürfte eine Untertreibung sein", bemerkte Reed. „Mir ist nicht der Ausdruck in Ihrem Gesicht entgangen, als Sie die Möglichkeit erwogen haben. Es muss sehr schwer zu ertragen sein."
„Es ist wirklich sehr ... beängstigend", räumte Anna ein. Es erleichterte sie sehr, endlich mit jemandem über ihre Visionen sprechen zu können. „Ich ... ich scheine den Schmerz und den Schrecken der Opfer nachzuempfinden - so wie ich den Schlag auf den Kopf gespürt habe, als ich an Kit dachte."
„Dann sollten Sie es auf keinen Fall tun", sagte Reed in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Anna lächelte. „Meinen Sie nicht, dass Sie die Entscheidung mir überlassen sollten?"
Er verzog das Gesicht. „Sie sind genauso unverbesserlich wie meine Schwestern. Zumindest müssen Sie mir versprechen, dass Sie nur dann mit Ihrer Gabe experimentieren, wenn ich bei Ihnen bin, damit ich Ihnen gegebenenfalls helfen kann."
Anna sah ihn an und wusste auf einmal, dass ihre Visionen wirklich einfacher zu ertragen wären, wenn sie Reed an ihrer Seite wusste. Seine Nähe würde ihr Kraft verleihen und ein Gefühl der Sicherheit geben.
„Einverstanden. Ich versuche es nur, wenn Sie dabei sind."
Reed nickte sichtlich erleichtert, und sie wandten sich wieder ihrem Essen zu und plauderten über vergnüglichere Dinge.
Nach dem Mittagessen gingen sie hinüber in das Ortsarchiv. In der Amtsstube erwies es sich als großer Vorteil, dass Reed nicht nur der Sohn eines Dukes war, sondern auch so aufzutreten wusste. Nachdem der Beamte sich zunächst unwillig gezeigt hatte, ihnen die gewünschten Unterlagen herauszusuchen, verschwand er plötzlich doch sehr rasch nach hinten und kehrte nach einer Weile mit einem großen, unhandlichen Buch zurück.
Da es keine Sitzmöglichkeit gab, blieben Anna und Reed an dem langen Holztisch stehen, öffneten vorsichtig das Buch und blätterten die vergilbten Seiten durch, bis sie zu der Eintragung gelangten, nach der sie gesucht hatten.
Die gerichtliche Untersuchung verzeichnete mehrere Seiten an Zeugenaussagen zum Fall Susan Emmett. Den Anfang machte die Aussage des alten Dr. Felton, der die Wunden beschrieb, die er am Körper der Frau gefunden hatte. Reed und Anna entdeckten nichts, was sie nicht auch schon aus dem Notizbuch des Arztes wussten. Seine Aussage war sogar weniger interessant, da er bei der gerichtlichen Untersuchung darauf verzichtete, über die Art und Weise zu spekulieren, wie derartige Verletzungen dem Opfer beigebracht worden waren.
Der nächste Zeuge war der Mann, der die Leiche des Dienstmädchens unter einem Baum in der Nähe von Weller's Point gefunden hatte. Als Anna den Namen des Zeugen las, erstarrte sie und blickte ungläubig auf die Worte, die vor ihr standen. Der Mann, der bezeugt hatte, die Tote gefunden zu haben, war Nicholas Perkins.
15. KAPITEL
„Wussten Sie, dass Perkins Susan Emmetts Leiche gefunden hatte?", fragte Reed.
Anna schüttelte den Kopf. „Nein. Und dabei habe ich mich erst kürzlich mit ihm über die Morde von damals unterhalten. Er hat mir nichts davon erzählt!"
Unmerklich hatte sie ihre Stimme erhoben, und Reed sah schnell über den Tisch hinüber zu dem Beamten, der ihnen die Unterlagen herausgesucht hatte und sie beide nun mit unverhohlenem Interesse beobachtete. Anna holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen.
„Lassen Sie uns weiterlesen."
Reed nickte, und sie wandten sich erneut der Aussage von Nick Perkins zu, die immer wieder von den Fragen des Untersuchungsrichters unterbrochen worden war. Es fanden sich zahlreiche Details darüber, wann und wo genau er die Leiche gefunden hatte, in welchem Zustand sie gewesen war und was er getan hatte. Anna versuchte, aufmerksam alles durchzulesen, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Glücklicherweise machte Reed sich einige Notizen, denn alles, woran Anna im Augenblick denken konnte, war Nick Perkins, der ihr das Ganze verschwiegen hatte.
„Nie hat er auch nur ein Wort davon gesagt!", platzte es aus ihr heraus, sobald sie die gerichtlichen Aufzeichnungen zu Ende gelesen und das Gebäude verlassen hatten.
„Haben Sie ihn denn konkret nach den Morden gefragt?", wollte Reed wissen.
„Ja, nur reagierte er ungewöhnlich verschlossen, und ich hatte gleich das Gefühl, dass er mir nicht alles sagt.
Niemals wäre ich hingegen auf die Idee gekommen, dass er mir etwas derart Wichtiges verschweigen
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