Das Geheimnis von Winterset
dass er sie trug, als er Susan Emmett umbrachte. Der erste Mord mag vielleicht noch im Affekt geschehen sein, weil sich die Gelegenheit bot, aber als er dann Will Dawson umbrachte, war Lord de Winter regelrecht auf die Jagd gegangen."
Anna erschauderte. Die Vorstellung war furchtbar, und sie wusste, dass sie das Bild ihres verrückten Großvaters in Gedanken noch lange mit sich herumtragen würde.
Mit ernster Miene wandte Nick sich an sie. „Entschuldigen Sie bitte, Miss Anna, ich wollte Ihnen all das nie erzählen. Ich weiß, dass es falsch war, was ich damals getan habe, aber ich bereue es nicht. Es hat Sie und Ihren Bruder ebenso wie Ihre Mutter davor bewahrt, mit der Schande leben zu müssen. Sie mögen mich dafür verabscheuen, nur ..."
„Oh Nick!" Anna schaute ihn voller Betroffenheit an. „Nie könnte ich Sie verabscheuen."
Im Grunde war sie ihm dankbar, dass er sie und Kit davor bewahrt hatte, im Schatten der schrecklichen Taten ihres Großvaters aufzuwachsen. Sogar jetzt wünschte sie sich inständig, nie davon erfahren zu haben. Dennoch konnte sie nicht befürworten, wie Nick sich damals verhalten hatte, und sie war sich nicht sicher, ob ihr Verhältnis zu ihm jemals wieder so sein würde wie zuvor.
Kurz danach brachen sie auf, aber als Reed sein Pferd in Richtung der Landstraße wendete, hielt Anna ihn zurück.
„Ich möchte den anderen Weg nehmen", sagte sie zu ihm.
Reeds Augenbrauen schossen in die Höhe. „Über die Brücke am Bach? Sind Sie sicher?"
„Ja, ich habe lange darüber nachgedacht. Wir wissen zwar nun, wer die Morde von einst begangen hat, der Aufklärung der heutigen Verbrechen sind wir dagegen nicht viel näher gekommen. Jeder, der hier in der Gegend lebt, weiß über die früheren Morde Bescheid. Wir haben beide festgestellt, dass es mit ein wenig Nachforschung nicht schwer ist, auch die Details herauszufinden, um die Taten genau nachahmen zu können. Erinnern Sie sich noch daran, wie Grimsley uns erzählt hat, Licht in den Kinderzimmern und in der Galerie gesehen zu haben? Er nahm an, dass Geister dort umgingen, aber ich würde eher sagen, dass jemand in das leere Haus eingedrungen ist.
Und diese Person könnte ebenso wie wir Lord Rogers Tagebücher gefunden haben. Vielleicht gab es sogar noch Bände, die wir jetzt nicht gesehen haben - Eintragungen, in denen die Morde ausführlich beschrieben wurden.
Unser unbekannter Eindringling hat es gelesen und war davon fasziniert."
Reed nickte. „Ja, das ist durchaus eine Möglichkeit."
„Nur haben wir nach wie vor keinerlei Anhaltspunkte, wer es sein könnte", stellte Anna fest. „Und deshalb dachte ich mir, dass ich noch einmal versuchen sollte, worüber wir gesprochen haben - aber diesmal am Ort des Verbrechens selbst. Es könnte mir gelingen, mehr von dem Geschehen zu fühlen oder zu sehen und so einen Hinweis auf den Mörder zu bekommen."
Reed runzelte die Stirn. „Es gefällt mir gar nicht, dass Sie sich einer so schmerzlichen Erfahrung aussetzen wollen.
Ich habe erlebt, welche Auswirkungen das Erlebnis in dem Zimmer hinter der Galerie auf Sie hatte - und dieses Verbrechen lag bald fünfzig Jahre zurück. Bei den jetzigen Morden muss die Empfindung der Angst und des Leids noch unmittelbarer sein. Das möchte ich Ihnen ersparen."
„Ich kann es auf keinen Fall unversucht lassen", beharrte Anna.
Schließlich gab Reed mit einem Seufzer nach, und sie ritten in Richtung der kleinen Brücke davon.
Zu Pferde gelangte man sehr schnell an den Bach, und Anna spürte, wie ihr zunehmend elender zumute wurde, je näher sie dem Ort des Verbrechens kamen. Bei der Brücke stiegen sie aus dem Sattel, banden ihre Pferde an einen Baum und gingen zu der Stelle hinüber, an der Anna und die Zwillinge auf die Leiche von Frank Johnson gestoßen waren.
Das Gefühl der Beklemmung nahm mit jedem Schritt zu, Schmerz breitete sich in ihr aus. Nun stand sie dort, wo sie den jungen Mann gefunden hatten, blickte auf den Boden und erinnerte sich daran, wie sein lebloser Körper dort gelegen hatte. Am liebsten hätte sie weggesehen und ihre Erinnerungen verdrängt, doch sie zwang sich dazu, alles erneut vor ihrem geistigen Auge zu betrachten ... sich die furchtbaren Wunden zu vergegenwärtigen und den Anblick des Blutes, das sich auf dem Boden gesammelt hatte ...
Anna keuchte, als sie auf einmal eine gewaltige Erschütterung durchfuhr und sie einen heftigen Schmerz in ihrem Kopf fühlte. Die Empfindungen waren nicht genauso stark wie beim
Weitere Kostenlose Bücher