Das Geheimnis von Winterset
sich sah. „Die Angst ging dem Schmerz voraus. Und sie ... sie rennt." Anna klang ein wenig außer Atem. „Es ist hinter ihr ... hinter ihr her, und es holt sie ein."
Jetzt eilte sie zwischen den Bäumen hindurch, ihr Atem kam nur noch in abgehackten Stößen und ihre Stimme wurde schrill vor Angst. „Sie schreit. Sie will zu ihm ... zu dem Mann, den sie treffen wollte. Aber ich ... ich kann seinen Namen nicht verstehen. Und dann ... dann ... "
Wie angewurzelt blieb Anna stehen. „Hier. Hier setzt der Schmerz ein. Er ist anders - kein Schlag auf den Kopf.
Etwas rammt sie in den Rücken, und ich bekomme ... sie bekommt keine Luft mehr. Sie fällt zu Boden, und dann ist es über ihr. Die Angst lähmt sie. Und sie hat Schmerzen, furchtbare Schmerzen, und plötzlich erhascht sie einen Blick ... auf ein Gesicht, das sie zu Tode erschreckt. Ich kann es allerdings kaum erkennen. Ich fühle nur, was Estelle bei dem Anblick empfunden hat."
Anna holte tief Luft und sah sich um. Ihr war, als würde sie plötzlich wie aus weiter Ferne zurückkehren. Sie merkte, dass sie Reeds Hand fest umklammert hielt, und ein wenig peinlich berührt ließ sie ihn los.
„Entschuldigen Sie bitte."
Er schüttelte den Kopf und tat ihre Entschuldigung ab. „War das alles, was Sie sehen konnten?"
„Ja. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Diesmal war es jedoch anders, denn Estelle ist vor ihm davongelaufen, und sie hat keinen Schlag auf den Kopf bekommen."
„Sie war sein erstes Opfer. Vielleicht war der Mord gar nicht geplant. Oder er hat daraus gelernt, dass es in Zukunft von Vorteil ist, seine Opfer bewusstlos zu schlagen."
„Weil es Männer waren, könnte er geglaubt haben, sie erst außer Gefecht setzen zu müssen."
Reed nickte zustimmend. „Außer uns - und dem Mörder - weiß niemand, dass es hier geschehen ist. Das bedeutet, dass der Konstabler das Gelände noch nicht abgesucht hat."
„Das stimmt. Wir sollten uns ein wenig umschauen. Vielleicht finden wir eine Spur, die uns zum Täter führt.
Vielleicht einen von Estelles Ohrringen. Penny meinte, sie hätte an dem Abend ihres Verschwindens den Schmuck getragen, den ihr Verehrer ihr geschenkt hatte."
„Hat man sie bei der Leiche nicht gefunden?"
„Ich bin mir nicht sicher. Als ich Estelles Familie besuchte, kam ich darauf zu sprechen, aber sie wussten von nichts. Deshalb denke ich nicht, dass der Schmuck noch bei der Leiche war."
„Gut, wir werden sehen. Lassen Sie uns hier beginnen, wo Sie glauben, dass Estelle zu Boden gestürzt ist."
Sie fingen an, den Waldboden und die Büsche gründlich abzusuchen. Nach einigen Minuten stieß Reed einen kleinen Freudenschrei aus, und Anna eilte sofort zu ihm hinüber.
„Was ist? Haben Sie etwas gefunden?"
„Sehen Sie sich das an." Reed deutete auf etwas Glitzerndes, das halb im Gebüsch versteckt neben einem abgestorbenen Ast lag.
„Was ist das?" Anna beugte sich näher an den Gegenstand heran, und Reed ging in die Hocke, um ihn aufzuheben.
„Ein Manschettenknopf', stellte er fest und zeigte ihn Anna. „Kommt er Ihnen bekannt vor?"
Anna begutachtete den in Gold gefassten schwarzen Onyx und schüttelte dann unschlüssig den Kopf.
„Ich bin mir nicht sicher. Ich ... mir ist, als hätte ich ihn schon einmal irgendwo gesehen, aber... nein, ich weiß es wirklich nicht."
Sie seufzte enttäuscht, denn sie hatte so sehr gehofft, eine Spur des Mörders zu finden - und nun hatten sie tatsächlich etwas in Händen, und es half ihnen kein bisschen weiter.
Reed entging ihre niedergeschlagene Miene nicht. „Seien Sie nicht enttäuscht. Immerhin wissen wir nun, wo das Verbrechen wirklich verübt wurde, und wir haben einen Manschettenknopf gefunden, den der Täter verloren hat."
„Bloß können wir damit wohl kaum zu Konstabler Wright gehen", bemerkte Anna. „Was sollten wir ihm sagen? Er glaubt, dass der Tatort ganz woanders war, und ich erzähle ihm lieber nicht, weshalb ich da anderer Ansicht bin."
„Nein, aber wir wissen nun zumindest mehr als zuvor." Er lächelte sie an. „Wir haben eine Spur des Mörders."
„Ich weiß, nur ... ich mache mir Sorgen um Kit. Seit dem Einbruch gestern Nacht glaube ich, dass der Täter keine Ruhe geben wird, bevor er nicht meinem Bruder etwas zuleide getan hat. Wir müssen herausfinden, wer hinter dem allen steckt. Und das bald."
„Das werden wir natürlich auch", versicherte ihr Reed, nahm ihre Hand und drückte sie zuversichtlich. „Und jetzt möchte ich Sie gerne nach Hause
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