Das Geheimnis von Winterset
sein und seine Gesellschaft genießen, ohne ihrer Leidenschaft für ihn nachzugeben. Nun hatte sich gezeigt, dass das unmöglich war. Genauso wenig konnte sie ihn jedoch heiraten. Trotz seiner Bekundungen fand sie es verantwortungslos und grausam, sich ihm als seine Frau aufzubürden, die ihm keine gesunden Kinder schenken konnte und noch dazu vielleicht eines Tages selbst dem Wahnsinn verfiel. Reed hatte mehr verdient... und eines Tages würde er eine Frau finden, die ihm all das geben konnte.
Rasch verdrängte sie die Eifersucht bei dem Gedanken, dass Reed einmal eine andere Frau heiraten würde - eine bessere Frau ... Sie ermahnte sich, vernünftig zu sein: Nur weil Reed alle Vernunft fahren ließ, musste sie nicht gleich den Verstand verlieren.
Sobald sie im Haus war, eilte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer und warf sich auf ihr Bett, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Danach stand sie auf, wusch sich das Gesicht und läutete nach Penny, damit sie ihr ein Bad einließ.
Nachdem sie lange in der Wanne gesessen hatte, half Penny ihr, sich anzukleiden und steckte ihr das Haar auf.
Schließlich ging Anna nach unten und widmete sich lustlos ihren Pflichten. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, und die alltäglichen Haushaltsangelegenheiten erschienen ihr auf einmal belanglos und absurd.
Fast rechnete sie damit, dass Reed sie aufsuchen würde. Er würde nicht so leicht aufgeben. Sie wusste selbst nicht, wie sie es schaffen sollte, sich ihm weiterhin zu widersetzen, wenn doch alles in ihr sich nach ihm sehnte. Woher sollte sie die Stärke nehmen, ihnen beiden das Glück zu versagen, das sie sich so sehr wünschten?
In derlei trübe Gedanken war sie vertieft, als sie am späten Nachmittag aus dem Fenster in den Garten blickte und dabei eine Gestalt entdeckte, die sich zwischen den Bäumen hindurch auf das Haus zu bewegte. Der Tag heute war genauso trist und düster wie Annas Gedanken, und über allem hing ein dunstiger Schleier, der die Sicht erschwerte.
Sie ging näher an das Fenster und sah angestrengt und mit wachsender Beklemmung hinaus.
Der Mann war stehen geblieben und schien nicht recht weiterzuwissen. Anna traute ihren Augen kaum - es war Arthur Bradbury, der Kammerdiener ihres Onkels.
Hastig eilte sie hinüber zum Arbeitszimmer ihres Bruders. „Kit, Arthur ist draußen im Garten."
„Wie bitte?" Kit blickte von seinen Unterlagen auf und sah sie verwirrt an.
„Arthur Bradbury."
„Was tut er hier?"
„Ich weiß es nicht. Aber es muss wichtig sein, wenn er deswegen ... "
„Ja, natürlich. Du hast recht."
Kit erhob sich. Er hatte in Hemdsärmeln gearbeitet, doch nun zog er sich seinen hellgrauen Gehrock über, den er über den Sessel vor seinem Schreibtisch gelegt hatte, und folgte seiner Schwester nach draußen. „Wo genau ist er?"
„Ich habe ihn hinten ihm Garten unter den Bäumen gesehen. Ich glaube, er wartet darauf, dass einer von uns ihn bemerkt und nach draußen kommt."
Anna nahm auf dem Weg zur Hintertür ihren Hut von der Garderobe, setzte ihn sich auf und band die Schleife, während sie neben ihrem Bruder durch den Garten lief. Bald schon erkannten sie Arthurs kräftige Gestalt unter den Bäumen. Er ging unruhig auf und ab und sah sehr besorgt drein. Als er die beiden Geschwister auf sich zukommen sah, nahm er sich mit einer erleichterten Geste die Kappe vom Kopf, um sie beide zu begrüßen.
„Sir! Miss! Ich bin so froh, Sie zu sehen. Ich habe mir schon überlegt, wie ich wohl auf mich aufmerksam machen könnte, ohne dass mich jemand der Dienstboten erwischt."
„Was gibt es?", fragte Kit. „Stimmt etwas nicht mit unserem Onkel?"
Arthur druckste ein wenig herum. „Nun ... Sir, es ist so ... er ist verschwunden."
„Verschwunden?", entfuhr es Anna bestürzt.
„Als ich heute Morgen aufwachte, konnte ich ihn nirgends finden. Eigentlich bewegt er sich tagsüber nicht außerhalb der Grenzen seines Steinkreises, Miss. Und deshalb habe ich mir ziemliche Sorgen gemacht. Je länger ich auf ihn wartete, desto größer wurde meine Sorge. Nach einer Weile bin ich ihn dann suchen gegangen. Leider habe ich ihn nicht gefunden." Erwartungsvoll sah er von Kit zu Anna, als hoffte er, dass sie ihren Onkel herbeizaubern könnten.
„Oje", seufzte Kit. „Ist das früher schon einmal vorgekommen?"
Arthur schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Er hält sich im Hellen nicht gerne außerhalb des Kreises auf. Ich mache mir Sorgen, dass ihm etwas zugestoßen ist. Natürlich kann ich
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