Das Geheimnis von Winterset
Ich will dich bis ans Ende meines Lebens lieben und für dich sorgen."
„Das will ich auch!", schluchzte Anna und sah ihn mit Tränen in den Augen an. „Nur weißt du genau, dass wir es nicht können."
„Doch, wir können es! Was kümmert mich der Wahnsinn deiner Vorfahren? Ich liebe dich, und ich will dich -
einschließlich deiner verrückten Familie. Ich kann nicht den Rest meines Lebens so zubringen wie die letzten drei Jahre - dich vermissen, mich immer nach dir sehnen und vergeblich nach dir verlangen ... und das alles bloß wegen deines trotzigen Stolzes!"
„Es ist weder Trotz noch Stolz. Ich tue nur, was ich tun muss. Selbst wenn du dir vorgaukeln möchtest, als bestünde das Problem gar nicht, ist es nun einmal da."
„Du verstehst mich nicht. Ich weiß sehr wohl um das Problem, es kümmert mich hingegen nicht. Ich sehe nicht ein, dass wir beide unser Leben ruinieren sollen, nur weil dein Onkel wahnsinnig ist."
„Das kannst du deiner Familie nicht antun. Reed, denke doch einmal nach! Es ist eine der besten und ältesten Familien Englands, und du darfst nicht zulassen, dass dein Blut sich mit dem der de Winters mischt. Du weißt nicht, was du deinen Kindern damit aufbürdest!"
„Dann verzichten wir eben auf Kinder. Anna, hör mich an." Er ging zu ihr und schloss seine Hände um die ihren.
„Es gibt Mittel und Wege, keine Kinder zu bekommen."
„Sicher könnten wir dennoch nie sein", erwiderte Anna.
„Ich will dich als meine Frau", sagte Reed mit rauer Stimme, „selbst wenn es bedeuten sollte, dass wir nie mehr miteinander teilen könnten, was wir gerade erlebt haben."
„Wir könnten nicht verhindern, dass es wieder geschieht, und das weißt du", entgegnete Anna. „Außerdem solltest du Kinder haben, denn du wärst ein wundervoller Vater. Ich habe dich zusammen mit Con und Alex beobachtet.
Du hast Kinder verdient."
„Ich möchte lieber dich", erwiderte er schlicht.
„Es sind nicht nur die Kinder", fuhr Anna rasch fort. „Der Wahnsinn setzt oft erst spät ein. Mit zwanzig hat mein Onkel zwar erste Anzeichen gezeigt, aber mit den Jahren wurde es stetig schlimmer. Auch mir könnte das noch bevorstehen. Ich würde verrückt werden und dir eine große Last sein. Das kann ich dir nicht antun. Und ich würde es nicht ertragen, wenn du mich so siehst."
„Und ich kann es nicht ertragen, ohne dich zu leben!", rief er aufgebracht. „Ich will bis ans Ende meines Lebens mit dir zusammen sein - ganz gleich, was geschieht. Wenn du verrückt wirst, lebe ich eben mit einer Verrückten zusammen."
„Aber das ist doch kein Leben!", hielt Anna dagegen.
„Mir wäre es lieber, als Jahr um Jahr mit irgendeiner anderen Frau zu verbringen. Verdammt noch mal, Anna! Ich liebe dich! Und ich bin bereit, alles auf mich zu nehmen, was uns bevorstehen mag." Seine Augen funkelten vor Zorn. „Ich glaube, dass du nur Angst hast. Du liebst mich nicht so sehr, als dass du dich auf das Wagnis einlassen wolltest."
„Das stimmt nicht!", fuhr sie ihn an. „Ich liebe dich mehr als mein Leben. Ich liebe dich von ganzem Herzen."
Tränen ließen ihr die Stimme versagen, und nur mühsam brachte sie die letzten Worte hervor: „Und deshalb werde ich dich nicht heiraten."
Anna wandte sich ab und rannte aus dem Zimmer.
„Anna!" Reed fluchte und griff nach dem Erstbesten, das ihm zwischen die Finger kam ... eine kleine Öllampe, die er mit der ganzen Kraft seiner Wut und seiner Enttäuschung gegen die Wand schmiss. Einen Moment lang blieb er reglos stehen, bevor er sich umdrehte und hinter Anna herrannte.
Sie eilte bereits die Treppe hinunter, und Reed setzte ihr mit langen Schritten nach. Er war sich kaum der neugierigen Blicke seiner Dienstboten bewusst, die auffallend zahlreich mit Tätigkeiten im Treppenhaus beschäftigt waren. ,Anna! Warte!"
Anna hielt jedoch nicht an, sondern hastete durch die Eingangstür hinaus. Bis Reed sie eingeholt hatte, saß sie bereits im Sattel. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah sie sich ein letztes Mal nach ihm um, dann stieß sie ihrer Stute die Fersen in die Flanken und galoppierte davon. Reed blieb stehen und blickte ihr lange nach.
Als Anna auf Holcomb Manor eintraf, war all ihr Ärger verflogen und hatte einem Gefühl der schmerzlichen Leere Platz gemacht.
Sie wusste, dass sie Reed besser nie wieder sah, denn die Situation war unhaltbar geworden. Anna schalt sich, weil sie während der letzten Wochen in einem Tagtraum gelebt und geglaubt hatte, sie könne in Reeds Nähe
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