Das Geheimnis von Winterset
allein jemals hätten sein können.
„Sie!", stieß er hervor und sah sich mit gehetztem Blick um. „Sie dürfen jetzt nicht hier sein!"
Es musste jemand sein, den sie kannte, dachte Anna ... jemand, der sie kannte. Dennoch wollte es ihr nicht gelingen, dieses Ungeheuer mit irgendeinem ihrer Bekannten in Verbindung zu bringen. Und vor allem wusste sie nicht, was sie sagen oder tun sollte, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen, Reed zu töten.
Langsam erhob sie sich und machte sich ein Bild von der Situation. Neben dem Mann auf dem Boden lag ein kurzer Holzknüppel, in seiner Hand hielt er ein Messer. Dass sie an der Klinge kein Blut erkennen konnte, bestärkte Anna in ihrer Hoffnung, dass Reed nicht tot, sondern nur bewusstlos war. Wenn es ihr gelingen würde, den Mörder abzulenken, bis Reed wieder zu sich kam, konnte er seinen Angreifer vielleicht überwältigen. Deshalb begann sie mit dem Unbekannten zu sprechen, in der vagen Hoffnung, dass sich seine ganze Aufmerksamkeit dann auf sie richten würde. Sie wusste, dass dieser Plan nicht allzu Erfolg versprechend war, etwas anderes fiel ihr im Moment allerdings nicht ein.
„Lassen Sie ihn in Frieden", befahl sie so bestimmt, wie es ihr unter den gegebenen Umständen möglich war.
Der Mann im Umhang schüttelte den Kopf. „Nein. Oh nein! Er muss sterben."
„Warum?", wollte Anna wissen. „Er hat Ihnen doch nichts getan."
„Er will Sie!", erwiderte der Unbekannte aufgebracht: „Verstehen Sie denn nicht, dass er deshalb immer noch hier ist? Er will Sie heiraten. Er hat vor, alles durcheinander zu bringen, und das kann ich nicht zulassen!"
„Ich werde Reed nicht heiraten."
„Nein, natürlich nicht. Sie sind für mich bestimmt."
Anna stockte der Atem. Was um alles in der Welt redet er da?
„Das wissen nur wir beide", fuhr die unheimliche Gestalt fort. „Aber nun ist er dazwischengekommen." Er deutete auf den am Boden liegenden Reed.
Anna machte einen Schritt vor, denn sie hatte Angst, dass er Reed etwas antun könnte. Sofort streckte der Mann mit der Maske den Arm nach ihr aus und bedeutete ihr, stehen zu bleiben.
„Nein! Kommen Sie nicht näher."
„Gut", meinte Anna nun beschwichtigend. „Ich bleibe, wo ich bin."
Sie dachte über das nach, was er gerade gesagt hatte. Er war ganz ohne Zweifel verrückt... und vielleicht konnte sie diesen Umstand ja für sich nutzen.
„Ich habe nicht verstanden", fing sie an, „was genau Sie damit meinten, dass ich für Sie bestimmt sei."
„Das Schicksal hat uns zusammengeführt!" Er streckte seine Arme in einer dramatischen Geste weit aus, und Anna konnte sehen, dass er unter seinem Umhang ganz normale Kleidung trug. Sie erschauderte, weil sie entdeckte, was er sich in den Hosenbund gesteckt hatte - es war das Gartenwerkzeug mit den vier scharfen, krallenartig gebogenen Zinken, von dem Dr. Felton gesprochen hatte.
Eiskalt lief es ihr über den Rücken. Er hatte mit Reed dasselbe vor, wie mit seinen anderen beiden Opfern. Schwer schluckte Anna gegen die aufsteigende Übelkeit an.
„Wir sind beide Kinder des Wolfs", fuhr er fort. „Ich bin nicht der, für den Sie mich halten, und die Leute, die sich als meine Eltern ausgeben, sind gar nicht meine Eltern. Ich wurde adoptiert. Das weiß ich. Vor vielen Jahren schon wurde es mir bewusst. Zunächst konnte ich nicht verstehen, wer ich wirklich war, und spürte nur Erleichterung, dass diese jämmerlich dummen und gewöhnlichen Leute mich nicht gezeugt hatten. Aber dann erfuhr ich, dass ich der Erbe des Wolfs war."
„Entschuldigen Sie bitte, ich verstehe nicht ganz, wovon Sie sprechen."
„Doch, das tun Sie! Natürlich verstehen Sie mich! Oder hat man Sie bereits so gegen uns aufgebracht, dass Sie nicht mehr daran glauben? Seien Sie unbesorgt, ich werde Sie in alles einweihen." Feierlich legte er sich die Hand auf die Brust und verkündete: „Lord Roger de Winter war mein Großvater."
„Das kann gar nicht sein", rutschte es Anna heraus, ehe ihr einfiel, dass es vielleicht nicht besonders klug war, diesem geistig verwirrten Mann zu widersprechen. „Ich meine ... es ist unmöglich, weil Lord Charles keine Kinder hat", fügte sie in versöhnlicherem Ton hinzu.
„Der doch nicht!" Er tat Annas Bemerkung mit einer raschen Handbewegung ab. „Meinen Vater kenne ich nicht, aber meine Mutter war die uneheliche Tochter eines Dienstmädchens auf Winterset. Mein Großvater ist der alte Lord de Winter."
„Ah ... jetzt verstehe ich." Anna dachte bei sich, dass
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