Das Geheimnis von Winterset
sich und ihrem Bruder nicht den ersten Abend seit Wochen verderben wollte, an dem sie beide wieder einmal ausgingen. Eigentlich liebte sie das Leben auf dem Lande sehr, doch manchmal konnte die Ruhe schon ein wenig bedrückend sein.
Als sie hinter dem Einspänner des Doktors in Winterset vorfuhren, war das ganze Haus hell erleuchtet. Ein Hausdiener öffnete ihnen die Tür und führte sie in den Salon, wo Lady Kyria mit ihrem Bruder und ihrem Mann die Gäste empfing. Lady Kyria trug ein smaragdgrünes Kleid und sah atemberaubend aus, aber Annas erster Blick galt Reed. Er war ganz förmlich in Schwarz und Weiß gekleidet, und der einzige Farbtupfer seiner Garderobe war der blutrote Rubin auf der Krawattennadel, die in seiner schneeweißen Halsbinde steckte. Anna fand, dass er unter den anwesenden Männern der mit Abstand am besten aussehende war.
Ihr Herz schlug schneller, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass es ein Fehler gewesen war, zu kommen. Reed wiederzusehen und sich ihm noch dazu von ihrer besten Seite zeigen zu wollen, war ein Spiel mit dem Feuer, dachte Anna. Ihr Gefühl verstärkte sich noch, als sie bemerkte, wie seine Augen silbrig schimmernd aufblitzten, sobald er sie nur ansah. Vielleicht sollte sie sich weniger darum sorgen, dass Kits Herz in Gefahr sein könnte, als vielmehr um ihr eigenes ...
Rasch wandte sie den Blick von Reed ab, lächelte Kyria an und brachte eine höfliche Begrüßung hervor. Nun konnte sie ihm nicht länger ausweichen, denn Reed stand neben seiner Schwester, nahm Annas Hand und beugte sich galant über sie.
„Miss Holcomb, es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen. Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine aufrichtigen Worte, aber Sie sehen heute Abend hinreißend aus."
Anna spürte, wie sie errötete, und auf einmal fühlte sie sich hoffnungslos schüchtern. „Danke, Mylord", erwiderte sie leise und sah ihn dabei kaum an. „Es war sehr aufmerksam von Ihnen, uns einzuladen. Meinen Bruder kennen Sie ja bereits", fuhr sie hastig fort.
„Aber natürlich, Sir Christopher." Reed ließ ihre Hand los und wandte sich ihrem Bruder zu, doch Anna glaubte, noch immer die warme Berührung seiner Finger auf den ihren spüren zu können.
Zum ersten Mal in ihrem Leben freute sie sich, die Frau des Squires zu sehen, die mit aufgeregt wippenden grauen Löckchen geschäftig auf sie zukam und sie aus ihren unwillkommenen Gedanken riss. „Anna, da sind Sie ja! Der arme Miles hatte schon Sorgen, dass Sie vielleicht nicht kämen. Er möchte so gerne mit Ihnen tanzen! Eigentlich ist das ja heute gar kein Ball, aber ich bin mir sicher, dass Lady Kyria euch jungen Leuten ein paar Tänze gönnt.
Sie müssen nämlich wissen", fügte sie vertraulich hinzu, „dass es auch ein Streichquartett gibt. Wie elegant!"
Anna nickte lächelnd und ließ sich von der Frau des Squires zu deren Familie führen. Sie hatte so ihre Zweifel, ob Mrs. Ben-netts Sohn Miles tatsächlich den Wunsch geäußert hatte, mit ihr zu tanzen, oder ob dies nicht einfach nur eine der unzähligen Belanglosigkeiten war, die seine Mutter stets von sich gab. Während Mrs. Bennett sich keinerlei Hoffnungen machte, was ihren Sohn und Anna anbelangte - zumindest wollte Anna das hoffen, denn der Junge war noch keine einundzwanzig und damit gut fünf Jahre jünger als sie selbst -, so dachte die Frau des Squires aber sehr wohl, dass Kit eine gute Partie für ihre Tochter sein könnte, und war bei jeder Gelegenheit darauf bedacht, die beiden Familien näher zusammenzubringen.
Der Squire stand mit seiner Tochter Felicity beisammen, während Miles etwas abseits am Kaminsims lehnte und es offensichtlich darauf anlegte, interessant zu wirken. Sein Haar war ein wenig zu lang und sorgsam zerzaust, seine Halsbinde trug er locker und unachtsam geknotet. Anna vermutete, dass er wohl versuchte, wie ein richtiger Künstler auszusehen - düster, geheimnisvoll und ein bisschen verwegen. Tatsächlich machte er aber einfach nur einen etwas ungepflegten und noch dazu sehr unsicheren Eindruck. Anna fand, dass er sich lieber ein Beispiel an Reed nehmen sollte, dessen elegante Haltung und funkelnde Augen dem Herzen jeder Frau eher gefährlich werden konnten als eine jede von Miles Bennetts Posen.
Anna begrüßte den Squire und Felicity. Squire Bennett war ein ruhiger, phlegmatischer Mann, das genaue Gegenteil seiner unablässig plappernden Frau. Auch jetzt grüßte er Anna und ihren Bruder, den Mrs. Bennett ebenfalls sofort in Beschlag genommen hatte,
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