Das Geheimnis von Winterset
dritt machten sie sich auf den Weg zu Nick Perkins, um nach dem verletzten Hund zu sehen.
Zu ihrer großen Freude war ihr Patient noch am Leben, und seine Genesung schien gute Fortschritte zu machen, wenngleich er noch immer kaum den Kopf heben konnte und kläglich versuchte, mit dem Schwanz zu wedeln, als er sie wiedererkannte. Die Jungen verbrachten den ganzen Nachmittag bei Nick, halfen ihm bei der Gartenarbeit und lernten dabei viel über die Heilpflanzen, die er anbaute.
Anna genoss den Nachmittag. Sie hatte ja selbst einen jüngeren Bruder und war daher von Kindesbeinen an mit Jungen aufgewachsen. Die Zwillinge waren klug und aufgeweckt, obwohl sie manchmal vor Tatendrang fast übersprudelten. Wenn sie die beiden ansah, meinte sie, Reed in diesem Alter vor sich zu haben - oder die Kinder, die sie mit ihm hätte haben können, wenn sie seinen Antrag nicht abgewiesen hätte. Aber das waren Gedanken, die sie sich gar nicht erst gestatten sollte, ermahnte sie sich sofort.
Sie hatte sich entschieden, nicht zu Kyrias Feier am Freitagabend zu gehen, und beabsichtigte, zu gegebener Zeit Kopfschmerzen zu bekommen. Doch je näher der Tag rückte, desto öfter ertappte sie sich dabei, dass sie bereits überlegte, was sie anziehen könne, oder sie beriet sich mit Penny über ihre Frisur ... Am Freitag musste sie sich schließlich eingestehen, dass sie tatsächlich gerne auf die Abendgesellschaft gehen wollte. Feierlichkeiten wie diese waren hier in der Gegend nicht gerade häufig, und der Gedanke daran, dass sie den gesellschaftlichen Höhepunkt der ländlichen Saison verpassen würde, gefiel Anna gar nicht. Kyria hatte einen sehr netten Eindruck gemacht, und es wäre unhöflich, ihrem Fest fernzubleiben - zumal, wenn man keine bessere Entschuldigung hatte als plötzliche Kopfschmerzen. Natürlich würde Anna darauf bestehen, dass Kit ohne sie hinginge, gleichwohl würde ihre Unpässlichkeit seine Freude sicher trüben. Und der bloße Gedanke daran, den Abend mit einem mit Lavendelwasser getränkten Tuch auf der Stirn im Bett verbringen zu müssen und dabei an die Festlichkeiten zu denken, die ohne sie stattfanden, erschien Anna auf einmal wenig verlockend.
Außerdem, so sagte sie sich, musste sie den Abend ja nicht mit Reed verbringen. Es würden genügend andere Gäste dort sein, mit denen sie sich vergnüglich unterhalten konnte. Wenn sie an ihre gemeinsame Kutschfahrt kürzlich dachte, so war Reed sicher ebenso darauf bedacht, ihr aus dem Weg zu gehen, wie sie selbst. Und letztlich musste sie sich beschämt eingestehen, dass sie der Versuchung einfach nicht widerstehen konnte, sich ihm von ihrer besten Seite zu zeigen, anstatt in der heruntergekommenen Aufmachung, in der er sie während ihrer letzten Zusammentreffen immer gesehen hatte.
Deshalb trug sie nun am Freitagabend ihr neuestes Ballkleid, dessen himmelblauer Ton ihrer Haut und der Farbe ihrer Augen wunderbar schmeichelte, während der weit geschwungene Ausschnitt und die kleinen Puffärmel ihre milchigweißen Schultern auf das Vorteilhafteste betonten. Auf dem Rücken war das Kleid mit einer kleinen Turnüre versehen, über die der blaue Satin des Rockes dicht gerafft war und die sich mit weichem Schwung zu Boden ergoss. Eine schlichte Perlenkette und dazu passende Ohrringe vollendeten ihre Abendgarderobe, und Annas goldbraunes Haar hatte Penny zu einem Knoten frisiert, aus dem einzelne Locken herabhingen und ihr Gesicht umrahmten. Anna war mit ihrem Aussehen mehr als zufrieden, und sie hoffte, dass es nicht allzu verwerflich von ihr war, wenn sie sich wünschte, dass Reed bei ihrem Anblick dachte, sie sei noch genauso hübsch wie vor drei Jahren.
Nicht, dass sie darüber hinaus etwas von ihm erwartete ... nein, das wollte sie nicht. Mit diesem Teil ihres Lebens hatte sie abgeschlossen, und das war nur gut so, Aber gegen ein bisschen Eitelkeit von ihrer Seite konnte doch bestimmt nichts einzuwenden sein.
Sie lächelte ihrem Bruder zu, als er ihr in die Kutsche half, und spürte eine gespannte Vorfreude in sich. Kit schien ebenso aufgeregt wie sie selbst zu sein, und Anna fragte sich, ob seine freudige Erwartung wohl der reizenden Miss Farrington galt. Der Gedanke beunruhigte sie ein wenig. Glücklicherweise war Kit kein Träumer, und er war sich seiner Verpflichtung bewusst - er würde nichts tun, was er nicht tun durfte. Nur konnte das auch nicht verhindern, dass ihm vielleicht das Herz brach. Anna hielt sich hingegen zurück und sagte nichts, da sie
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