Das Geheimnis von Winterset
einstellen dürfen. Sie hat schon immer geglaubt, sie wäre was Besseres ... "
„Ich mache mir ehrlich gesagt große Sorgen um sie", unterbrach Anna erneut den Redeschwall ihrer Haushälterin.
„Sorgen? Was soll der denn schon geschehen sein? Sie wird mit dem Mann davongelaufen sein, mit dem sie sich getroffen hat. Estelle war schon immer ein ganz durchtriebenes Ding."
„Nun ja, aber ... kommt das nicht etwas plötzlich? Warum hat sie Penny nichts davon erzählt?"
„Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass Penny es ihr ausredet. Penny ist zwar ein dummes Ding, aber so unvernünftig ist sie dann ja doch nicht. Sie würde ihr schon gesagt haben, dass es falsch ist, einfach so mit einem Mann durchzubrennen."
„Ja, nur können wir doch gar nicht wissen, ob Estelle das tatsächlich getan hat", bemerkte Anna. „Hat sie beispielsweise ihre Sachen mitgenommen? Penny wäre das sicher aufgefallen, und sie hätte mir davon erzählt."
„Nein, Miss. Penny hat alles durchgesehen und meint, dass nichts fehlt."
„Würde Estelle ihre Sachen denn einfach so zurücklassen?"
Mrs. Michaels dachte kurz nach. „Vielleicht wollte sie gar nicht mit ihm durchbrennen, sondern hat sich einfach nur so sehr verspätet, dass sie nicht mehr unbemerkt ins Haus zurückkehren konnte. Und dann erst ist sie davongelaufen."
„Ohne ihre Sachen?", fragte Anna noch immer ungläubig.
„Sie hatte ja ohnehin nicht viel, Miss. Nur ein paar Kleider und eine Bürste und so was eben. Oh, ihre neuen Ohrringe hat sie getragen, hat Penny mir erzählt."
„Gerade wenn man wenig hat, ist einem das Wenige doch besonders wichtig und teuer", wandte Anna ein.
Mrs. Michaels runzelte die Stirn. „Worauf wollen Sie hinaus, Miss? Warum glauben Sie, dass das Mädchen nicht einfach durchgebrannt ist? Wonach sieht es denn sonst aus?"
„Ich weiß es nicht." Anna musste erneut an das unheimliche Gefühl denken, das sie im Wald überkommen hatte, wenngleich sie nicht verstand, weshalb sie es nun mit Estelles Verschwinden in Zusammenhang brachte.
Wahrscheinlich hatte es gar nichts damit zu tun. Dennoch ... Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas nicht stimmte. Andererseits konnte sie ihrer bodenständigen Haushälterin wohl kaum sagen, dass sie sich deshalb Sorgen machte, weil sie heute im Wald von seltsamen Empfindungen ergriffen worden war.
„Ich denke trotzdem", fuhr sie schließlich fort, „dass wir dennoch versuchen sollten, sie zu finden. Fragen Sie ihre Familie, benachrichtigen Sie den Konstabler im Dorf, schicken Sie ein paar Männer los, die nach ihr suchen. Es könnte ja sein, dass sie unterwegs gestürzt ist und nun irgendwo verletzt dort draußen liegt."
„Nun ja, Miss ... natürlich. Wenn Sie das wünschen", stimmte Mrs. Michaels zu, doch ihr war anzusehen, dass sie eigentlich meinte, Anna sei viel zu nachsichtig mit dem Dienstmädchen.
„Ja, genau das wünsche ich", bekräftigte Anna daher. Schon vor Annas Geburt war Mrs. Michaels Haushälterin auf Holcomb Manor gewesen, und nie wäre es Anna in den Sinn gekommen, die tüchtige Frau durch eine jüngere zu ersetzen. Die Holcombs waren bekannt dafür, ihren Dienstboten gegenüber loyal zu sein. Allerdings hatte Anna recht früh gelernt, dass sie bestimmt auftreten und ihren Worten Autorität verleihen musste, wenn sie wollte, dass die Dinge nach ihrem Willen geschahen und nicht nach dem der Haushälterin.
Als sie endlich zu Bett ging, war Anna schon etwas beruhigter. Sie wusste, dass Mrs. Michaels nun alles daransetzen würde, das vermisste Mädchen zu finden - ganz gleich, was sie insgeheim von Annas Anweisungen halten mochte.
Im Laufe der Woche gab es keine Neuigkeiten von Estelle. Niemand im Dorf, auch nicht ihre Familie, hatte sie in letzter Zeit gesehen. Gleich am nächsten Tag war der Wildhüter mit den Stallburschen und einigen der Gärtner aufgebrochen und hatte das Anwesen und die umliegenden Ländereien durchkämmt. Sogar im Wald hatten sie gesucht und waren dabei fast bis nach Craydon Tor gegangen, aber nirgends fanden sie eine Spur von Estelle.
Schließlich musste Anna sich der vorherrschenden Meinung anschließen, dass das Mädchen wohl mit ihrem Liebhaber durchgebrannt war. Niemand, nicht einmal Penny, schien jedoch zu wissen, wer dieser Mann sein könnte, weshalb es keine Möglichkeit gab, herauszufinden, ob auch er verschwunden war.
Die Zwillinge nahmen Anna beim Wort und besuchten sie auf ihre Einladung hin an einem der nächsten Tage auf Holcomb Manor. Zu
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