Das Geheimnis von Winterset
Stille.
„Hat man jemals herausgefunden, wer es gewesen ist?", fragte Rafe McIntyre schließlich.
Einige der Umstehenden schüttelten schweigend den Kopf. Der Anwalt sprach als Erster: „Es gab viele Leute, die nicht glauben wollten, dass es ein Mensch gewesen sein könnte. Sie dachten, es wäre die legendäre Bestie."
„Man mag sich auch kaum vorstellen, dass ein Mensch zu so etwas fähig ist", fügte der Pfarrer hinzu.
„Noch Jahre danach saß den Leuten hier in der Gegend der Schrecken in den Knochen", wusste der Squire zu berichten. „Ich erinnere mich daran, wie meine Amme mir erzählte, dass die Dorfbewohner sogar im Sommer die Fenster und Türen ihrer Häuser verriegelten, weil sie sich so sehr vor der Bestie fürchteten."
Obwohl sie den Erzählungen eigentlich keinen Glauben schenkte, lief Anna plötzlich ein kalter Schauder über den Rücken.
Kurz darauf löste sich die Abendgesellschaft auf. Es gab vorerst keine Neuigkeiten mehr, und jeder wollte jetzt so schnell wie möglich nach Hause.
Als ihre Gäste gegangen waren, legte Rafe den Arm um seine Frau, zog sie an sich, und Kyria ließ dankbar ihren Kopf an seine Schulter sinken.
„Es tut mir leid wegen deines Festes, meine Liebe", meinte er und küsste sie zärtlich auf die Schläfe.
Kyria schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht ... es ist wegen des armen Mädchens."
„Meinst du wirklich, es könnte sich um das Dienstmädchen der Holcombs handeln?", fragte Rosemary besorgt.
„In Anbetracht der Tatsache, dass sie vermisst wird, ist das leider recht wahrscheinlich", bemerkte Reed. „Ich habe zudem gehört, wie der Wachtmeister sagte, bei der Leiche handle es sich um eine Frau."
Miss Farrington erschauderte und sagte kaum hörbar, dass sie nun zu Bett gehen wolle. Reed warf seiner Schwester und Rafe einen fragenden Blick zu. „Kommt ihr noch mit in mein Arbeitszimmer, um etwas zu trinken?"
„Ich denke, einen kleinen Brandy könnten wir jetzt wirklich gebrauchen", stimmte Rafe zu, und so machten die drei sich auf den Weg in Reeds Arbeitszimmer. Es war ein großer, aber gemütlicher Raum mit wuchtigen Sesseln, die bereits dort gestanden hatten, als Reed das Anwesen gekauft hatte, und deren Leder mit den Jahren herrlich weich und geschmeidig geworden war.
Reed ging zur Anrichte hinüber, nahm die Karaffe mit Brandy und drei Gläser und goss recht großzügig ein.
Seufzend nahm Kyria auf dem Sofa Platz. „Es ist alles so furchtbar! Die arme Anna. Habt ihr gesehen, wie blass sie geworden ist?"
Rafe nickte, als er neben ihr Platz nahm. Er griff nach ihrer Hand, führte sie an seine Lippen und küsste sie zärtlich. Kyria lächelte ihn an und schmiegte sich an ihn.
Reed drehte sich mit den Gläsern in der Hand zu seiner Schwester um und sah sie aufmerksam an. „Ich war nicht bei euch, während sie davon erfahren hat. Hat sie die Nachricht wirklich so sehr beunruhigt?"
„Das würde ich schon sagen", meinte Kyria. „Sie war entsetzlich blass. Aber das ist schließlich auch kein Wunder, denn immerhin war es ja anscheinend eines ihrer Dienstmädchen. Davon zu erfahren ist um einiges schlimmer, als von dem Tod einer Unbekannten zu hören."
„Ich frage mich nur sagte Reed kaum hörbar und sah nachdenklich auf die Gläser in seiner Hand.
Rafe und Kyria wechselten einen kurzen Blick miteinander. „Du fragst dich was?", hakte Rafe nach. „Kanntest du das Mädchen, das sie gefunden haben?"
Reed schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ... " Er kam zu ihnen herüber und reichte Rafe und Kyria ihren Brandy. „Ihr werdet mich sicher für verrückt halten. Theo habe ich bereits davon erzählt, und er schien ein wenig an meinem Verstand zu zweifeln."
Fragend zog Kyria die Augenbrauen in die Höhe. „Was hast du Theo erzählt? Und was hat Theo damit zu tun? Er ist doch in London."
„Er hat gar nichts damit zu tun. Aber ich habe ihm erzählt, weshalb ich hierher zurückgekehrt bin."
Kyria sah ihren Bruder verständnislos an. „Ich bin davon ausgegangen, dass du hier bist, weil du das Haus auf Vordermann bringen willst, damit du es verkaufen kannst. Zumindest sind Rafe und ich deswegen mitgekommen, da wir das Anwesen vielleicht selbst erwerben möchten. War das nicht dein eigentlicher Grund?"
„Nein, nicht ausschließlich."
Rafe und Kyria sahen sich erneut vielsagend an und wandten sich dann wieder Reed zu. „Reed ... was genau willst du damit sagen? Hast du vielleicht gar nicht vor, Winterset zu verkaufen?"
„Ich weiß es nicht.
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