Das Geheimnis von Winterset
Schrei abwandte und davoneilte.
„Anna!", rief Reed ihr nach, doch seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, und Anna drehte sich nicht um.
Vor den Flügelfenstertüren blieb sie kurz stehen und blickte in den hell erleuchteten Saal. Sie rückte ihr Kleid zurecht und strich sich über ihr Haar, atmete einmal tief durch und ging schließlich hinein. Niemand schien ihre Rückkehr zu bemerken.
Drinnen sah sie sich suchend nach ihrem Bruder um. Endlich entdeckte sie ihn am anderen Ende des Raums, wo er sich noch immer mit Lady Kyria und Rosemary unterhielt, und ging zu ihm hinüber. Es gefiel ihr gar nicht, dass Kit nun ihretwegen das Fest bereits verlassen müsste, weil es ihm so offensichtlich Vergnügen bereitete. Trotzdem meinte Anna, es nicht einen Augenblick länger hier auszuhalten. Vielleicht könnte sie ihm auch einfach sagen, dass sie Kopfschmerzen habe und bereits nach Hause fahre, ihm aber den Wagen zurückschicken würde.
Während sie langsam an den Tanzenden vorbeiging, warf sie einen Blick zurück und sah, dass auch Reed wieder hereingekommen war, jedoch das entgegengesetzte Ende des Saals ansteuerte.
Sobald die Musik zu Ende war und die tanzenden Paare sich zerstreuten, ging Anna entschlossenen Schrittes zu ihrem Bruder hinüber. Auf einmal lenkte jedoch eine allgemeine Unruhe ihre Aufmerksamkeit zu der großen Tür, die in die Eingangshalle führte. Zu ihrem Erstaunen erkannte sie dort Carl Wright, den Konstabler. Er machte den Eindruck, als fühle er sich recht unbehaglich und ließ beständig seine Kappe von einer Hand in die andere wandern.
Im nächsten Moment sah sie auch schon Reed durch die Menge hindurch zu ihm gehen und ein paar kurze Worte mit ihm wechseln.
Mittlerweile hatten sich alle Gäste nach den beiden Männern an der Tür umgedreht und betrachteten die Szene neugierig. Nun blickte Reed sich im Saal um, bis sein Blick auf Dr. Felton fiel. Er bedeutete dem Arzt, zu ihm zu kommen, und Felton bahnte sich rasch einen Weg durch die Schar der Gäste, die sich jetzt alle in der Nähe der Tür versammelt hatten. Ein leises Gemurmel stieg von der Gruppe auf, die Wachtmeister Wright am nächsten stand, und breitete sich langsam weiter nach hinten in den Raum aus.
„Eine Leiche ... "
„Sie haben eine Leiche gefunden ... "
Anna erstarrte, und ihre Finger krallten sich in den Stoff ihres Rockes. Estelle!
6. KAPITEL
Anna war sich nicht sicher, weshalb sie so genau zu wissen glaubte, das es sich bei der Leiche nur um das vermisste Dienstmädchen Estelle handeln konnte, aber sie zweifelte nicht einen Moment daran. Ihre Beine drohten fast nachzugeben, und was sie vor wenigen Augenblicken noch so sehr bewegt und aufgewühlt hatte, war nun auf einmal ganz weit weg. Sie drehte sich rasch um und eilte zu ihrem Bruder, der noch immer bei Lady Kyria und Miss Farrington stand, und griff nach seinem Arm. Kit sah sie schweigend an und legte seine Hand schützend auf die ihre.
„Wissen Sie, was geschehen ist?", fragte Anna ihre Gastgeberin, die jedoch nur den Kopf schüttelte.
„Nein, ich habe lediglich jemanden sagen gehört, sie hätten eine Leiche gefunden."
In diesem Moment fand sich Rafe McIntyre neben seiner Frau ein und legte ihr seine Hand um die Taille. Kyria lehnte sich an ihn und sah dankbar zu ihm auf. „Wer ist dieser Mann?", fragte sie und deutete mit dem Kopf zur Tür hinüber.
„Der Konstabler", antwortete Anna. „Er scheint gekommen zu sein, um Dr. Felton zu holen."
„Oje, wie furchtbar", stieß Rosemary Farrington mühsam hervor. Sie war ganz blass geworden.
„Und wenn es Estelle ist?", fragte Anna ihren Bruder.
„Wer ist Estelle?", wollte Kyria wissen.
„Wir können nicht wissen, ob sie es ist", wandte Kit ein. „Es könnte auch irgendein Fremder sein."
„Sie ist eines unserer Zimmermädchen", erklärte Anna den anderen. „Seit einigen Tagen wird sie vermisst, aber alle dachten, sie sei mit einem Mann durchgebrannt, und nun ... "
Erneut blickte Anna zur Tür. Dr. Felton und Wachtmeister Wright waren bereits gegangen, und Reed kam schnellen Schrittes zu seiner Schwester herüber. Immer wieder wurde er jedoch von Gästen aufgehalten, die ihm Fragen stellten. Als er schließlich vor Kyria stand, sagte er mit ruhiger Stimme: „Es tut mir leid, dir das Fest verderben zu müssen, meine Liebe."
Kyria winkte ungeduldig ab. „Was ist denn passiert?"
„Scheinbar wurde eine Leiche gefunden."
„Wo?", fragte Anna sofort, denn in Gedanken war sie wieder
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