Das Geheimnis von Winterset
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„Vielleicht hatte Großmutter doch Recht", meinte Kyria abschließend zu Reed. „In unserer Familie scheint es tatsächlich eine gewisse ... Empfindsamkeit für derlei Dinge zu geben."
Reed verdrehte die Augen. „Es fällt mir ein wenig schwer, zu glauben, dass Großmutter auch nur annähernd empfindsam war. Ihre ,Visionen' dienten wahrscheinlich nur dazu, alle Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen."
Kyria lachte. „Das mag wohl sein. Aber wenn einem so etwas zustößt, sollte man nicht dagegen ankämpfen. Du hattest das untrügliche Gefühl, dass Anna in Schwierigkeiten war und du hierher kommen solltest. Ich finde, du hast genau richtig gehandelt."
„Ich kam mir vor wie ein Narr, als ich mit ihr gesprochen habe. Es ging ihr ganz offensichtlich gut, und sie hätte es am liebsten gesehen, wenn ich gleich wieder abgereist wäre. Aber jetzt ... nach dem, was heute Abend geschehen ist, frage ich mich natürlich ... "
„... ob dein Traum nicht doch eine Vorahnung war", beendete Kyria den Satz ihres Bruders.
„Und ob der Tod ihres Dienstmädchens nicht vielleicht Teil der Schwierigkeiten ist, in denen Anna sich befindet -
oder auch erst der Anfang davon", fügte Rafe hinzu.
„Ich weiß es nicht", meinte Reed. „Natürlich ist das alles schrecklich, aber ich kann nicht erkennen, was es mit Anna zu tun hat - abgesehen davon, dass das Mädchen anscheinend für sie gearbeitet hat. Vermutlich verstehe ich wirklich nicht, was hier vor sich geht. Wenn ich jemand anderen hätte sagen hören, was ich euch gerade erzählt habe, würde ich ihn mit Sicherheit für verrückt erklären."
„Nun, ein Mord ist durchaus eine sehr reale Angelegenheit", wandte Kyria ein.
„Falls das Mädchen überhaupt ermordet wurde. Vielleicht war es ja auch ein Unfall", stellte Reed fest.
„Glaubst du wirklich, dass sie einem wilden Tier zum Opfer gefallen ist?", fragte Kyria skeptisch.
Reed warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Nein, ich glaube nicht, dass es die legendäre Bestie war, falls du das andeuten willst. Das scheint mir einfach nur eine dieser reißerischen Geschichten zu sein, die den Leuten lieber ist als die Wahrheit."
„Nichts lieben die Leute mehr als eine gute Geschichte mit einem bestialischen Ungeheuer", stellte Rafe fest und nahm einen Schluck von seinem Brandy. „Mir fällt da eine Geschichte ein, die bei uns zu Hause sehr beliebt war - über die Sumpfkatze." Er machte eine kleine Pause und sah Reed und Kyria bedeutungsvoll an. „Nicht weit von unserem Haus gab es ein Sumpfgebiet, das sich bis an die Küste erstreckte, und die Leute in der Gegend waren überzeugt davon, dass dort ein schwarzer Panther lebte. Natürlich nicht irgendein Panther - oh nein, er war viel größer und stärker als ein gewöhnlicher Panther, und seine Augen leuchteten in der Dunkelheit wie rot glühende Kohlen. Die Leute erzählten sich auch, dass er unsterblich sei, denn schon oft hatten sie ohne Erfolg auf ihn geschossen. Er sei die Katze des Teufels, hieß es, und wer sich des Nachts in den Sümpfen verlaufe, würde ihm begegnen. Das Schlimme aber war, dass die Bestie einen nicht einfach nur umbrachte, sondern auch die Seele ihres Opfers mit sich nahm ... "
„Ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass das Mädchen von einem ganz normalen wilden Tier angegriffen wurde", unterbrach Kyria ihren Mann.
„Bloß was soll das für ein Tier gewesen sein?", entgegnete Rafe. „Das scheint mir das eigentliche Problem mit deiner Vermutung, denn es wäre mir neu, dass in England Raubkatzen oder Bären durch die Wälder streifen."
„Ich weiß, aber vielleicht war es ein tollwütiger Hund", meinte Reed.
„Was die ganze Sache noch spannender macht", fügte Kyria hinzu, „ist doch, dass es genauso zu sein scheint wie bei den Morden, die sich vor fast fünfzig Jahren hier ereignet haben." „Falls es diese Übereinstimmung tatsächlich gibt", gab Reed zu bedenken. „Wir wissen über die Morde von damals nicht mehr als über die Leiche, die jetzt gefunden worden ist."
„Nun, dann müssen wir über beides eben mehr in Erfahrung bringen", meinte Kyria entschlossen.
„Wir?", vergewisserte sich Reed. „Ich wollte eigentlich gerade vorschlagen, dass du und Rafe mit den Zwillingen, Emily und Miss Farrington nach London zurückkehrt."
„Du willst uns hinauswerfen?", fragte Kyria mit gespielter Entrüstung.
Reed verzog kurz das Gesicht. „Nein, aber wenn hier tatsächlich ein Mord geschehen ist, dürfte es wohl kaum der
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