Das Geheimnis von Winterset
Dorf befreite sie indes, und sie flüchteten gemeinsam in den Wald. Aber Lord de Winter und seine Leute spürten die beiden auf und töteten den Jungen vor den Augen seiner Geliebten. Ihr Vater nahm sie mit sich zurück auf sein Schloss, und noch in derselben Nacht stürzte sich das vor Trauer fast wahnsinnige Mädchen aus einem Fenster des Schlosses zu Tode."
„Eine typische Schauergeschichte eben", bemerkte der Anwalt Mr. Norton mit überheblicher Gelassenheit.
„Sehr traurig", meinte Rosemary Farrington, „aber ich verstehe nicht, was das mit einer Bestie zu tun hat."
„Das kommt jetzt", erklärte Felicity und nahm ihre Geschichte wieder auf. „Der Dorfjunge war nämlich der Sohn einer Hexe, und die war nun außer sich vor Wut. Sie suchte den Adeligen auf und verhängte einen Fluch über ihn, weil er ihren Sohn umgebracht und auch den Tod seiner eigenen Tochter zu verantworten hatte. Sie verhexte ihn in eine Bestie, halb Mensch und halb Tier, und verdammte ihn dazu, dergestalt für immer auf Erden zu wandeln und von allen verabscheut zu werden." Hier endete Felicity und sah sich beifallheischend um.
„Du meinst wohl eine ganze Menge darüber zu wissen", bemerkte ihr Bruder abschätzig.
„Weißt du es denn vielleicht besser?", fragte Felicity beleidigt und stemmte ihre Hände in die Hüften.
„Es gibt tatsächlich noch andere Versionen der Geschichte", warf der Anwalt ein. „In einer heißt es, dass Lord de Winter sich alle sieben Jahre in die Bestie verwandle oder dass in jeder Generation de Winters einer als Bestie geboren wird. Aber die Variante, die Miss Bennett soeben erzählt hat, ist die mit Abstand beliebteste."
„Man nennt sie hier in der Gegend die Bestie von Craydon Tor", fügte Reed hinzu. „Als ich Winterset damals kaufte, hat man mir alles darüber erzählt, und mir wurde gesagt, das Biest würde in den Wäldern am Fuße des Berges hausen."
„Das ist doch Unsinn", sagte Anna. „Damit soll bloß den Kindern das Fürchten gelehrt werden."
„Nur ist die Bestie gesehen worden!", widersprach Mrs. Burroughs energisch. „Oft, sehr oft hat man sie gesehen.
Ich habe alles darüber in einem Buch gelesen, das Dr. Felton mir geliehen hat."
„Es gibt tatsächlich Geschichten, die davon berichten, dass einige Leute das Monster gesehen haben wollen", stimmte Anna zu. „Aber nie konnten diese Leute sich darauf einigen, wie die Bestie denn nun wirklich ausgesehen hatte, nicht wahr?"
„Nein", pflichtete ihr Bruder bei. „Manche erzählten, dass sie ein dunkles Tier gesehen hätten, wie einen Panther.
Andere wieder meinten, es sei aufrecht gegangen und hätte den Kopf eines Löwen gehabt. Und dann gab es noch ein paar, die sich ganz sicher waren, dass es eigentlich wie ein Mensch aussah, aber Krallen gehabt hätte, ganz viel Haare im Gesicht und
lange, spitze Zähne."
„Zudem", wandte Mr. Norton ein, der ganz offensichtlich ein Skeptiker war, „sind das nur Überlieferungen - irgendein Pfarrer wird einmal über böse Ungeheuer gepredigt haben, oder eine Zeitung brauchte gerade wieder eine spannende Geschichte und zitierte dazu Quellen der Art ,wie wir von einem Bauern aus dem Dorf erfahren haben', oder ... "
„Und die Morde?", unterbrach ihn der Squire. „Die trugen alle die Handschrift der Bestie. Ich war ja noch ein Säugling, als das alles geschah, doch ich weiß noch gut, wie immer wieder davon geredet wurde, als ich jung war."
„Morde?", fragte Kyria hellhörig und sah sich entsetzt um. Reed schien fast ebenso überrascht zu sein wie seine Schwester.
„Aber ja", bestätigte der Squire und nickte eifrig. „Das ist jetzt bald fünfzig Jahre her, vier oder fünf Jahre bevor Lord und Lady de Winter bei dem Feuer umkamen ... " Er wandte sich an Kit und Anna und fügte hinzu: „Das war eine schlimme Tragödie damals, das mit Ihren Großeltern." Er seufzte tief und schüttelte bekümmert den Kopf.
„Und einige Jahre zuvor hatte die Bestie zwei Menschen umgebracht."
„Wirklich?" Kyria stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
„Das höre ich zum ersten Mal", bemerkte Reed.
„Es ereigneten sich damals tatsächlich Morde", bestätigte Mr. Norton und sprach jedes seiner Worte bedachtsam aus, wie er es meist tat.
„Die Opfer wiesen am ganzen Körper Krallenspuren auf", verkündete Mrs. Burroughs, viel entschiedener als üblich. „Alle haben das gesagt. Einem der Opfer war der ganze Hals aufgerissen worden."
Ihren Worten folgte eine furchtbare, beklemmende
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