Das Geheimnis von Winterset
sie in Gefahr glaubte, war sein erster Impuls, ihr zu Hilfe zu eilen. Da hat nicht sein Verstand gesprochen, und er täte gut daran, auf sein Herz zu hören."
„Doch wenn sie ihn nun erneut abweist? Vielleicht will sie ihn ja wirklich nicht?"
Kyria bedachte ihren Mann mit einem vielsagenden Blick. „Irgendwann heute Abend ist mir aufgefallen, dass weder mein Bruder noch Miss Holcomb im Salon waren. Ein wenig später sah ich dann, wie sie von der Terrasse hereinkam. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen leuchteten, und in ihrem Gesicht war ein Ausdruck, als wäre sie gerade noch einmal davor bewahrt worden, sich einen steilen Abgrund hinabzustürzen. Ich weiß zwar nicht, weshalb Miss Holcomb meinen Bruder vor drei Jahren zurückgewiesen hat, aber ganz sicher nicht, weil sie ihn nicht will."
Sie sah Rafe an und lächelte. „Vielleicht muss man den beiden nur ein wenig nachhelfen, bevor sie merken, dass sie zusammengehören." Übers ganze Gesicht strahlend, fügte sie hinzu: „So war es zumindest bei uns."
Dann riss sie sich lachend von ihrem Mann los und eilte leichtfüßig die Treppe hinauf nach oben. Rafe schmunzelte und rannte ihr dann hinterher, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm.
7. KAPITEL
Anna empfing den Doktor mit einem verhaltenen Lächeln und reichte ihm die Hand zum Gruß. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie heute gekommen sind, Dr. Felton."
Sie bedeutete ihm, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich dann mit ihrem Bruder auf die Sessel gegenüber.
Es war der Nachmittag nach der Feier, und Anna hatte den ganzen Tag auf Nachrichten über die Ereignisse der vergangenen Nacht gewartet. Als der Butler Dr. Felton angekündigt hatte, war sie sogleich von einer Mischung aus Angst und Erleichterung erfasst worden - Erleichterung, weil sie nun endlich etwas erfahren würde, und Angst, weil sie fürchtete, dass es sich bei der Toten tatsächlich um Estelle handeln könnte. Warum sonst sollte der Arzt sie so bald aufsuchen?
„Ich wollte es Ihnen gerne persönlich sagen", begann Dr. Felton.
„Sie wissen, um wen es sich bei der Leiche handelt?", fragte Kit. „War es Estelle?"
„Ja", erwiderte der Arzt. „Ich war mir bereits ziemlich sicher, als ich die Leiche sah, aber nun hat auch der Vater des Mädchens sie identifiziert."
„Wie furchtbar", flüsterte Anna. „Wir hätten mehr tun sollen ... gründlicher nach ihr suchen ..."
„Ich bin mir sicher, dass Sie alles getan haben, was Ihnen möglich war", meinte Dr. Felton beschwichtigend.
„Wir dachten, sie wäre mit einem Mann davongelaufen", erklärte Anna. „Und dabei war sie zu dem Zeitpunkt bereits tot!"
„Du solltest dir keine Vorwürfe machen", sagte Kit zu ihr. „Estelle war vermutlich bereits tot, als wir ihr Verschwinden bemerkten. Wir hätten ihr nicht mehr helfen können."
Anna wandte sich an Dr. Felton. „Stimmt das? Ich muss die ganze Zeit daran denken, dass sie vielleicht gefallen sein könnte und dann allein und hilflos dalag ..."
„Nein, Sir Christopher hat recht, und Sie sollten sich wirklich keinen Vorwurf machen. Sie hätten für das Mädchen nichts mehr tun können. Als wir sie fanden, war sie bereits seit mehreren Tagen tot - vermutlich lebte sie auch schon nicht mehr, als Sie nach ihr zu suchen begannen. Und es war kein Unfall. Sie wurde ermordet."
„Oh!" Tief in ihrem Herzen hatte Anna zwar gewusst, dass es so war, aber trotzdem trafen die Worte sie nun wie ein Schlag.
Mord ... Mord war etwas, das in London passierte oder an anderen Orten, die weit fort waren - aber nicht hier in Lower Fenley. Und es geschah schon gar nicht Leuten, die Anna kannte. Seit Jahren hatte sie Estelle jeden Tag gesehen, denn das Mädchen hatte für sie gearbeitet, seit Anna zweiundzwanzig war. Anna hatte oft mit ihr gesprochen und ihr Heilmittel gegen Zahnschmerzen und Katarrh gegeben. Sie erinnerte sich nun wieder an jenen Tag, als sie Estelle morgens durch die Hintertür hatte schleichen sehen ... und an ihr freches Grinsen, als Anna sie vor der Haushälterin versteckt hatte.
„Ich weiß", sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. „Ich habe sie einmal morgens zurückkommen sehen und dachte mir damals schon, dass sie wohl die ganze Nacht fort gewesen war. Nur habe ich Mrs. Michaels nichts davon erzählt, weil ich nicht wollte, dass das Mädchen in Schwierigkeiten kam. Hätte ich es getan, hätte sie sich wahrscheinlich nicht mehr heimlich fortschleichen können ... und würde jetzt noch leben."
„Oder Mrs. Michaels
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