Das Geheimnis von Winterset
werden Sie zu keinem anderen Schluss kommen, als dass es sich um kaltblütige Morde handelte."
„Wer wurde damals umgebracht?"
„Das erste Opfer war ein Dienstmädchen, das zweite ein alter Bauer. Bei beiden fanden sich dieselben entstellenden Krallenspuren - so, als hätte eine riesige Raubkatze sie angegriffen. Aber der alte Mann ist an einer Stichwunde im Rücken gestorben, und dem Mädchen war mit einem Messer der Hals durchgeschnitten worden."
Martin Felton warf Anna einen entschuldigenden Blick zu. „Es tut mir leid, Miss Holcomb, ich habe ganz vergessen, wo ich bin. Dies ist wirklich ein unpassendes Thema in Anwesenheit einer Dame."
„Ich bitte Sie, Dr. Felton, erzählen Sie weiter. Mir geht es gut", versicherte Anna ihm. „Ich bin aus härterem Holz geschnitzt, als Sie glauben, und ich möchte natürlich auch gern wissen, was passiert ist. Seit meiner Kindheit habe ich von diesen unheimlichen Morden gehört, aber niemand hat mich je über die Hintergründe aufgeklärt."
„Der Schuldige ist nie gefunden worden, nicht wahr?", erkundigte sich Kit.
„Nein. Als das Dienstmädchen umgebracht wurde, hat man vermutet, dass es ihr Verlobter gewesen sei. Doch als der zweite Mord geschah, während der Verlobte des Mädchens im Gefängnis war, wurde er wieder freigelassen. Es hat sich nie eine Verbindung zwischen den beiden Opfern herstellen lassen, es gab keine Zeugen und keinerlei Beweise. Man hat nie herausgefunden, wer es war, allerdings gab es auch keine weiteren Morde - zumindest nicht bis jetzt."
„Es ist wohl ausgeschlossen, dass es sich um denselben Täter handelt", überlegte Kit.
„Ja, das denke ich auch. Der Mörder könnte noch leben, wenn er die Taten in jungen Jahren begangen hätte, nur wäre er dann jetzt schon sehr alt ... bestimmt weit über siebzig. Es ist also recht unwahrscheinlich, dass er heute in der Lage wäre, eine kräftige junge Frau zu überwältigen", antwortete Felton.
„Mir scheint, als wollte der Täter die Morde von damals nachahmen", rief Reed auf einmal. „Finden Sie nicht auch? Jemand versucht, es so aussehen zu lassen, als hätte die Bestie wieder zugeschlagen."
„Eine gute Idee", sagte der Doktor anerkennend.
„Über den Mörder wissen wir dadurch bloß immer noch nicht mehr", stellte Kit fest. „Wir wissen lediglich, dass er über die Morde von damals Bescheid weiß - und wer in dieser Gegend wüsste darüber nicht Bescheid?"
„Am wahrscheinlichsten ist doch, dass Estelles heimlicher Verehrer auch ihr Mörder ist", bemerkte Anna. „Das ist durchaus möglich", stimmte Reed zu. „Vielleicht haben sie sich gestritten. Er bringt sie um und versucht dann, seine Tat mit den Krallenspuren zu vertuschen."
„Nur würde er besagtes Gartengerät bei sich tragen, wenn er eigentlich nur zu einem Stelldichein verabredet war?", gab Anna zu bedenken.
„Stimmt", meinte Reed. „Die Tat muss also doch geplant gewesen sein."
„Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass Mord zum Mittel der Wahl wird, um sich einer Geliebten zu entledigen", sinnierte Dr. Felton.
Einen Moment lang schwiegen alle und ließen sich seine Wort durch den Kopf gehen. Dann fuhr der Arzt eilig fort: „Ich sollte eigentlich längst wieder im Dorf sein. In meiner Praxis warten sicher schon einige Patienten auf mich."
Er stand auf, und die anderen erhoben sich ebenfalls. Anna dankte ihm erneut, dass er ihr so schnell die traurigen Neuigkeiten über Estelle gebracht hatte, und Kit bot sich an, den Doktor zur Tür zu bringen. Als Reed und Anna allein im Salon zurückblieben, sahen sie sich verlegen an.
„Ich bin froh, dass es Ihnen gut geht", brach Reed endlich das Schweigen.
„Es war ein Schock", räumte Anna ein. „Allerdings kam es nicht wirklich überraschend, da Estelle ja schon seit mehreren Tagen vermisst wurde. Ich hatte zwar immer noch gehofft, dass diejenigen recht haben mochten, die dachten, sie sei durchgebrannt, aber ... "
„... aber Sie waren sich sicher, dass mehr hinter ihrem Verschwinden steckte. Warum?"
Anna sah ihn an. „Ich ... ich bin mir nicht sicher." Sie hatte noch niemandem erzählt, was ihr im Wald zugestoßen war, und ganz sicher würde sie es nicht Reed anvertrauen. Deshalb überlegte sie verzweifelt, wie sie ihre ungute Gewissheit begründen sollte. „Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass ich von Estelles Verschwinden erfuhr, nachdem wir den verletzten Hund im Wald gefunden haben."
Überrascht zog Reed die Augenbrauen in die Höhe. „Sie glauben,
Weitere Kostenlose Bücher