Das Geheimnis von Winterset
möchte nicht, dass einer von euch alleine geht", entgegnete Anna sofort.
„Aber Sie meinten doch selbst, dass der Täter nicht mehr in der Nähe ist."
„Ja, das glaube ich, aber ... "
Ganz offensichtlich waren die Jungen genauso starrsinnig wie ihr älterer Bruder und von ihrer Entscheidung nicht mehr abzubringen. Schließlich willigte Anna ein, und während Con sich neben sie auf den Felsblock setzte, machte Alex sich eilends auf den Weg.
Sie legte Con die Hand auf die Schulter. „Danke, dass du bei mir bleibst. Das ist sehr aufmerksam von dir."
„Wir konnten Sie hier nicht allein lassen", erwiderte Con ernst. „So etwas tut ein Gentleman nicht."
Anna schmunzelte. „Mir scheint, dass du und Alex bereits vollendete Gentlemen seid."
Con lächelte sie verschmitzt an. „Die meisten unserer Hauslehrer sind da anderer Ansicht."
„Dann sind sie wohl recht unverständige Männer."
„Genau das sagt Kyria auch immer."
Sie schwiegen einen Augenblick, und Anna bemerkte, dass Con wieder zu dem Toten hinübersah. Um ihn abzulenken, fragte sie: „Wie habt ihr euch entschieden, dass Alex zurücklaufen solle? Ihr habt euch ja gar nicht darüber beraten."
Con zuckte mit den Schultern. „Da gab es auch nichts zu bereden. Wir ... wussten das einfach. Ich weiß immer genau, was Alex denkt."
„Und er weiß auch, was du denkst? Ich stelle mir das sehr schön vor, sich auf diese Weise mit jemandem unterhalten zu können."
„Ach, ich weiß nicht. Dadurch ist es nämlich viel schwerer, ihn hereinzulegen", stellte Con nüchtern fest.
„Ja, das stimmt natürlich."
Sie bemühte sich weiter um ein unverfängliches Gespräch, um sich und den Jungen von dem abzulenken, was nur wenige Meter von ihnen entfernt lag. Sie redeten über Hauslehrer und Gouvernanten, und bald schon war Anna recht gut im Bilde über die erzieherischen Ansichten der Duchess of Broughton, der Mutter der Zwillinge.
Anna wusste nicht, wie lange sie so saßen, als sie auf einmal ein Geräusch vernahm. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie fuhr erschrocken herum. Doch es war nur Reed, der auf sie zugerannt kam.
„Reed!" Sie stand auf, und selbst Con sprang rasch auf und rannte seinem Bruder entgegen.
Reed hob Con hoch und umarmte ihn, dann setzte er ihn wieder ab und eilte zu Anna hinüber. Mit offenen Armen kam er auf sie zu, und ohne auch nur darüber nachzudenken, ließ Anna sich an seine Brust sinken und schlang die Arme um ihn. Sie hielt sich an ihm fest, als hinge ihr Leben daran, und dann brachen endlich die Tränen aus ihr hervor, die sie seit ihrem grausigen Fund zurückgehalten hatte.
Reed hielt sie an sich geschmiegt, streichelte ihren Rücken und flüsterte leise, beruhigende Worte, deren Sinn Anna kaum verstand, aber sie fühlte sich wunderbar geborgen. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie so standen, sie war sich nur noch der Kraft und der Wärme seines Körpers bewusst, der sie beschützte, umfing und beruhigte ... Sie spürte Reeds Lippen auf ihrem Haar und hörte, wie er sanft ihren Namen sprach.
Plötzlich vernahm sie den Hufschlag eines Pferdes und ein lautes Plätschern, als der Reiter den Bach durchquerte.
Widerstrebend lösten Anna und Reed sich voneinander und wandten sich um.
Rafe McIntyre war gekommen. Er brachte sein Pferd zum Stehen und stieg ab. Anna fiel auf, dass er einen Halftergürtel umgeschnallt hatte, in dem eine Pistole steckte. Nachdem er sein Pferd an einem Baum festgebunden hatte, eilte er zu ihnen herüber.
„Kyria hat einen der Stallburschen losgeschickt, um den Arzt und den Wachtmeister zu benachrichtigen. Ich denke, dass sie bald hier eintreffen werden." Er nickte Anna grüßend zu. „Ma'am. Con." Er fuhr dem Jungen durchs Haar und zog ihn kurz an sich. „Alles in Ordnung, mein Junge?"
Con nickte. Rafe gab ihm einen aufmunternden Klaps auf den Rücken und deutete dann mit dem Kinn in Richtung des toten Mannes. „Ich werde mir das mal ansehen."
Anna stieß einen Laut der Bestürzung aus, streckte die Hand nach Rafe aus und schüttelte heftig den Kopf. Er zögerte kurz und lächelte schwach. In seinen Augen nahm Anna einen Ausdruck wahr, den sie nie zuvor gesehen hatte, hart und resigniert zugleich.
„Seien Sie unbesorgt, Ma'am", versicherte er ihr. „Ich habe dergleichen schon viel zu oft gesehen."
Er drehte sich um und ging zu der Leiche, beugte sich über sie und ließ sich dann vorsichtig neben ihr auf die Knie sinken.
Reed wandte sich Anna zu. Sie wünschte, dass seine Arme sie
Weitere Kostenlose Bücher